„Diversität“, „Digitalisierung“, „Gender“, „Neue Medien“, „Künstliche Intelligenz“, „Klimakrise“, „globaler Süden“, „Networking“, „kuratorisches Format“: Alle diese hochaktuellen Begriffe und modischen Ausdrücke – und noch viele, viele mehr – sind bereits gefallen und im freien Umlauf, als die Podiumsdiskussion noch im vollen Gange ist. Zugegeben, diese Auflistung ist vom Autor dieser Zeilen unter „bias“ erstellt worden, nämlich mit dem Ziel, eine Tendenz zu suggerieren; dennoch tritt man der Runde nicht zu nahe, wenn man konstatiert, dass man angehörs dieser Semantik nicht notwendig und instantan darauf kommt, dass es hier um Neue Musik geht: Auf der Bühne der Bayerischen Akademie der Schönen Künste wird zum Thema „Über Haben und Brauchen: Neue Musik, wohin?“ gesprochen, der Anlass ist der 50. Geburtstag der Ernst von Siemens Musikstiftung, der in diesem Jahr noch mit einer langen Reihe weiterer Veranstaltung international gefeiert wird.
Insofern ist es an sich schon von dokumentarischem Wert, dass in diese Neuauflage des alten Diskurses eine solche heterogene Fülle von Themen einfließt. Alles hängt mit allem zusammen, je komplexer und dezentraler sich die Gesellschaft ausdifferenziert, was der Soziologe und Philosoph Niklas Luhmann schon vor spätestens dreißig, vierzig Jahren beschrieben hat; und je stärker sich die Gesellschaft global vernetzt, desto notwendiger ist es, die perennierende Frage der Neuen Musik aus dem verengten Blickwinkel des alten Europas zu befreien. So ist dem derzeit in New York promovierenden Schweizer Künstler und Komponisten Jessie Cox in seinem Befund zuzustimmen, dass die europäische Musik eine lange Geschichte der Expansion hinter sich hat, und dass es heute mehr als angeraten scheint, in einer „anderen Art von Offenheit“ den Leuten zuzuhören, die, etwa im globalen Süden, eigene Traditionen verfolgen oder etwas ganz Anderes machen. Bemerkenswert ist auch Cox' Hinweis darauf, dass das „Förderwesen“, wie es durch eine Stiftung wie die von Ernst von Siemens gegründete anerkennenswerterweise leistet wird, auf massive Hürden stößt, wenn zum Beispiel in Afrika nicht auch adäquate institutionelle Strukturen bereitstehen, innerhalb derer die Finanzmittel zweckmäßig verteilt werden können.
Hier wäre eine Nachfrage seitens der Gesprächsleiterin, der Musikwissenschaftlerin Katja Heldt, nahegelegen: Denn was passiert, profan gesagt, mit dem Geld, wenn es nicht ausgegeben werden kann? Und über diesen Einzelfall hinaus: Wie lässt sich, nachdem man das Feld von Projekten bis zur Unübersichtlichkeit über den alteuropäischen Kanon hinaus erweitert hat, genauer definieren, was mit ja letztlich doch begrenzten Ressourcen sachlich würdig ist, „geschützt“ zu werden, wie eine wiederkehrende Formulierung lautete? Hier bleibt die Diskussion unbefriedigend vage, was nicht nur daran liegt, dass Kriterien verlorengehen, wenn man die an sich begrüßenswerte Öffnung des Begriffs Neuer Musik betreibt. Vielmehr werden hier allzu zufällig Beobachtungen, Meinungen, einzelne persönliche Erfahrungen durcheinandergeworfen, was nicht allein Katja Heldt angelastet werden kann. Der Münchner Journalist Bastian Zimmermann ist wegen eines krankheitsbedingten Ausfalls kurzfristig und somit ohne große Vorbereitungszeit zur Diskussionsrunde gestoßen. Was sein Bericht über seine Arbeit als Redakteur eines Fachmagazins zur Frage der Förderungswürdigkeit beiträgt, erschließt sich nicht. Dass alles mit allem verbunden ist, erfordert doch gerade die Bereitschaft, die in die Himmelsrichtungen auseinanderschießenden Themen zu ordnen und auch einmal an einem Problem dranzubleiben.
Stichwort Gender und Diversität. Niemand kann unsanktioniert dagegen sein, uralte Diskriminierungen kurzfristig zu mildern und langfristig zu beseitigen. Unerwidert bleibt aber die Kritik der Professorin für Medienkomposition Iris ter Schiphorst, dass Komponistinnen offenbar bisweilen nach Geschlechtszugehörigkeit ausgesucht und „in kuratorische Formate gebracht“ werden. Sollte das wirklich das legitime Kriterium sein? Gleichzeitig informiert sie darüber, dass ihre Studentinnen und Studenten lange bewährte Voraussetzungen wie etwa das Klavierspiel nicht mehr unbedingt mitbringen. Wie genau aber kann, was sie andeutet, die Medienkompetenz der „digital natives“ Fertigkeiten ersetzen, die dem Komponieren nun einmal inhärent sind, als da sind: Stimmführung, Formbewusstsein, vielleicht gar kontrapunktisches Denken?
Auf solche Fähigkeiten zu bestehen, mag altbacken wirken. An Werken zweier Preisträger, die den Abend umrahmen, zeigt sich aber, dass deren Fehlen die Möglichkeiten des Komponierens ungebührlich beschneidet. So fährt sich „Chiaroscuro“ für Klaviertrio (2002) des 1978 geborenen Briten Luke Bedford schnell in einer generischen Ostinatoformel des Klaviers fest; die kurzen Motive der Streicher tragen wenig zur Belebung bei, sind noch dazu unbeholfen gesetzt, sodass das Ensemble NAMES (New Art and Music Ensemble Salzburg) verzagter klingt als es sein müsste. Der Norweger Øyvind Torvund kombiniert in „Plans for Future Ensemble Pieces“ (2022) witzige, an die Wand projizierte Zeichnungen mit instrumentalen Effekten und am Keyboard produzierten Geräuschen. Die Möglichkeit, dass sich Bild und Soundtrack präzise gegenseitig kommentieren oder widersprechen, verschenkt er allerdings. Letztlich hat das Stück mit einer herkömmlichen Filmmusik gemein, dass es ohne zweite mediale Ebene schlichtweg nicht genug zu hören gibt.
Welche Musik also ist – und zwar dezidiert ungeachtet der Person, die sie komponiert – schützens- oder förderungswürdig? Dass diese Frage in der Diskussion beantwortet würde, konnte weder gefordert werden noch war es angesichts deren hinreichend wirren Verlaufs nicht zu erwarten. Bleibt die Frage des Netzwerkens. Auf der Bühne war nolens volens eine Vorform dieser Tugend zu beobachten: Man kennt sich, man duzt sich, man versichert sich gegenseitiger Zustimmung. Vermischen sich die Funktionen, ist Feingefühl gefragt: Der Journalist Florian Hauser wird seine Sendezeit bei SRF2 Kultur nicht nach dem Privileg persönlicher Bekanntschaft verteilen können. Wie immer in solchen Zusammenhängen kommt es darauf an, zu verhindern, dass die so schwierig zu ermittelnden sachlichen Kriterien, die aber für förderungswürdige Musik gelten müssen, nicht durch ein Netzwerk ersetzt werden, das divers sein kann, aber dennoch, wie jeder Club, nicht automatisch vor der Gefahr gefeit ist, exklusiv zu werden.
Michael Bastian Weiß