In seinem Buch „Traumzeit“ gelingt es dem Ethnologen und Philosophen Hans Peter Duerr, das Verhältnis des Forschers zu seinem Gegenstand in einer einzigen Anekdote zusammenzufassen. Duerr lernt in Albuquerque zufällig einen Tewa-Indianer kennen. Nach einiger Zeit traut sich der junge Ethnologe, diesen zu fragen, ob er ihm dabei helfen könnte, eine in der Gegend ansässige Familie zu finden, die ihn für ein paar Monate aufnehmen würde, weil er „einiges über die nächtlichen Tänze in den unterirdischen Kivas erfahren“ wolle. Die Antwort des freundlich lächelnden Indianers stößt ihn „unmittelbar vor den Kopf“: Für ihn, den Wissenschaftler aus Europa, sei der geeignetste Ort, an dem er etwas über die Kiva-Tänze erfahren könnte, die Bibliothek der University of Southern California im benachbarten Los Angeles. Die Einsicht ist schmerzhaft: Selbst ein Forscher, der sich einem ihm fremden Gegenstand in Demut und mit größter Offenheit nähert, wird dabei nicht mal so eben dem Horizont seiner Ausbildung, seinem durch Rationalität geprägten Denken, kurz: seiner Identität, entspringen können.
Der Komponist und Schriftsteller Albert Breier ist ein vielseitig gebildeter Mensch. Neben einem Buch über mathematisches Denken und die Grundlagen moralischen Handelns (2014) hat er 2002 auch eine Studie über verblüffende Analogien zwischen der europäischen Musik und der chinesischen Malerei vorgelegt (beide Titel wandern sofort auf die Desideraten-Liste des Rezensenten). Unterkomplex wäre die Frage, was zuerst kam, ein gewisser Hauptzug des Komponierens Albert Breiers oder sein Interesse an außereuropäischer Kunst und Ästhetik: Sie werden sich gleichursprünglich gegenseitig hervorgebracht haben. Im Gespräch mit seinem Kollegen Nikolaus Brass, Direktor der Musikabteilung der Bayerischen Akademie der Schönen Künste, konkretisiert der 1961 geborene Breier die Parallelen seines Komponierens mit asiatischer Kunst: So, wie chinesische Malerei sich in Form von „Bildrollen“ manifestiert, die von rechts nach links sukzessive ausgebreitet werden, so – stellt Breier es sich vor – sei seine Musik durch ein primär horizontal: melodisch wirkendes, Moment charakterisiert.
Tatsächlich nimmt man in den vier sämtlich neuen bis neuesten Werken Breiers, die das Ensemble der/gelbe/klang an diesem Abend aufführt, darunter eine Uraufführung, viele Momente wahr, die für die europäische Musiktradition untypisch sind: Keines der vier Werke ist – zumindest nicht unmittelbar nachvollziehbar, etwa durch Kontrastbildung – in Abschnitte gegliedert. Statt bewusst konstruierter, etwa symmetrischer, oder hierarchischer Formen wie etwa dem Gerichtetsein auf Höhepunkte, lässt Breier die Musik sich entwickeln in einem gleichsam ein- und ausatmenden Kontinuum milder Spannungen und Entspannungen; im Streichquartett Nr. 6, einer Auftragskomposition der BAdSK, das hier seine Uraufführung erfährt, finden die Stimmen scheinbar ohne Verabredung zu Unisoni und Moll-, seltener Dur-Klängen zusammen, tremolieren scheu wie von sich selbst verwunderte Schönheiten und treiben dann absichtslos wieder vom Zentrum weg. „Wellenschlag“ und „unendliche Melodie“, zwei von Breier selbst benutzte Ausdrücke, treffen es sehr gut und lassen sich für „Himmelsstufen“ für Sextett (2019) bestätigen: Im Abgleich mit dem aristotelischen Paradigma, das nicht nur dem künstlerischen Denken des Abendlandes tief eingeschrieben ist, könnte man pointierend sagen, Breiers Stücke haben keinen Anfang und kein Ende, wohl aber eine Mitte.
Es ist leicht, hier das Konzept der chinesischen Bildrollen aufzufinden; in „Chant d´en haut“ (2021) würde man bei den zitternden Linien von Flöte, Klarinette und Violine, die sich aus der Heterophonie heraus aufspreizen, um sich dann in der Höhe oder Tiefe wieder zusammenzufinden, vielleicht auch dann fein gezeichnete Landschaften assoziieren, wenn Breier dieses Bild nicht vorher in der Vorstellung etabliert hätte. Darüber hinausgehend liegt es nahe, im spannungsarmen Grundgestus zumindest dieser vier Werke Vorstellungen von bewegter Stasis im Gegensatz zu teleologisch erlebter Zeit und Harmonie im Gegensatz zu dialektischem Konfliktaustrag zu erkennen – Vorstellungen mithin, die aus westlicher Perspektive gern als „östlich“ identifiziert werden. Dass solche Urteile freilich mindestens soviel über den Urteilenden aussagen wie über das Beurteilte, muss man – so Hans Peter Duerrs fundamentale wie ernüchternde Selbsteinsicht – sich dabei aber stets bewusst halten.
Albert Breier kommuniziert dieses Bewusstsein, dass man sich Kulturen und Traditionen, die nicht die eigenen sind, nicht einfach überstreifen kann wie einen Umhang, in seinen Werken deutlich vernehmbar. Schon in dem Stück für Flöte solo „Colours of Memories“ (2019) demonstriert Breier, der nicht zufällig die Vokalpolyphonie des 15. Jahrhunderts schätzt, dass die elementaren Intervallzusammenhänge, die Art und Weise, wie Musiker und Musikerinnen (hier die wunderbare Flötistin Zinajda Kodric) ebenso wie Hörerinnen und Hörer eine Quint, eine kleine Terz, einen Tritonus erleben, fühlen, auf die europäische Musiktradition zurückverweisen. Das heißt nicht, dass die exzellenten Musikerinnen und Musiker von der/gelbe/klang nicht in höchster Konzentration aufeinander hören müssten, weil das ständige Changieren zwischen Homo- und Heterophonie und Auseinanderdriften der Stimmen in einer Art Naturrhythmus auch im Kontext der Neuen Musik eher ungewöhnlich ist. Die minutiöse Abstimmung der Instrumente aufeinander ist daher umso höher zu schätzen. Dazu kommt, dass Breiers Umgang mit Tonhöhen in den Zusammenklängen und kleinen Imitationen, die sich bilden, von jeder Beliebigkeit weit entfernt ist und solche sinnhafte Strukturen erkannt und entsprechend artikuliert werden müssen.
Selten ergeben sich in der Folge verschiedener Arbeiten eines Komponisten eine so organische Kohärenz und eine derart ausgeglichene heitere Harmonie wie im Verlauf der vier Werke in diesem Porträtkonzert. Albert Breiers Musik ist an der Oberfläche so zugänglich, dass man ihr Fremdheitsmoment leicht übersieht. Denn wer in der abendländischen Tradition aufgewachsen ist, nimmt Musik unweigerlich als durch Kategorien geprägt wahr, welche die sukzessiven Eindrücke, die sinnlich erfasst werden, im hörenden Bewusstsein erinnert und zu Gestalten vereinigt werden müssen, ordnen; Kategorien durchaus im strengen Sinne Immanuel Kants, nämlich als Einheit schaffende Begriffe des Hörens mit Verstand, als da sind: Kontraste und Konflikte, Gliederung in Abschnitte zwischen Anfang, Mitte und Ende, formale Zielgerichtetheit, um nur einige elementare zu nennen. Breiers Komponieren widersetzt sich nicht diesem Hören in Kategorien, sondern löst vielmehr unmerklich sanft gleichsam deren Trennwände auf: eine bemerkenswerte Leistung, wohlgemerkt vollbracht innerhalb dieser Tradition.
PD Dr. Michael Bastian Weiß