Ein Martinshorn ist auch ein Horn. Ein Husten ist ein Naturlaut. Eine Sirene schließlich hat Bedeutung im Straßenverkehr wie in einem Werk von Edgar Varèse; „Aglaope“, „Himeropa“, „Ligeia“, „Leukosia“ und „Peisinoe“ sind einige ihrer Namen, Platon noch belässt es in einem späten Dialog bei der Nennung ihrer Zahl, ihre ersten Wirkungen überliefert Homer; die Ursprünge verlieren sich in der Vorgeschichte. Heute tönen die Sirenen vom Max-Joseph-Platz her durch die glücklicherweise nicht schallgedämpften Fenster der Bayerischen Akademie der Schönen Künste. Ihre Herkunft aus der Mythologie und der Kunst verbrämt nicht, dass sie die Musik von Luigi Nono stören wie die draußen vorbeifahrende Trambahn und im Saal das ununterdrückbare Husten einiger Anwesender, das Knacken der Programmblätter, ja, das Schaben des eigenen Bleistiftes im Notizbuch des Rezensenten.
Und doch: Wenn man alle diese Geräuschquellen ausschalten könnte, dürfte man es trotzdem nicht tun. Sie gehören intrinsisch zur Stille und damit auch zum Werk Nonos. Wenn dieser musikalisch-literarische Abend in der BAdSK nur Eines anschaulich vernehmbar macht – und es gibt Philosophen, die ihre ureigene Sache der Vernunft vom Verb „vernehmbar“ ableiten –, dann ist es genau diese wesentliche Einsicht. Luigi Nono, geboren am 29. Januar 1924, gestorben am 8. Mai 1990, hätte in diesen Tagen seinen 100. Geburtstag gefeiert. Wenn Nikolaus Brass, Direktor der Musikabteilung der Bayerischen Akademie der Schönen Künste, in seiner Begrüßung vielsagend feststellt, dass der Komponist „heute noch nicht vergessen“ ist, spielt er wohl auch auf den unabweisbaren Umstand an, dass Nonos Werk gegenwärtig kaum bis wenig gespielt wird, was – das sei ergänzt –, gemessen an seiner Bedeutung als eines der bedeutendsten Komponisten des 20. Jahrhunderts so unerklärlich ist wie es nachgerade als skandalös bezeichnet werden muss.
Der Dirigent Peter Hirsch, der dieses Programm „memorie e presenze“ konzipierte, mit den Musikerinnen, Musikern und der Schauspielerin Sibylle Canonica zusammen einstudierte und auch das Solistenensemble „der/gelbe/klang“ leitet, hat mit Nono in dessen letzten Lebensjahren intensiv zusammengearbeitet; so führte er 1986 die endgültige Fassung des „Prometeo“ zum ersten Mal auf und teilte sich die Folgevorstellungen mit Claudio Abbado, leitete im Jahr darauf die Uraufführung von „Risonanze Erranti“ in Köln und gab das nachgelassene Fragment „Julius Fucik“ heraus, das er 2006 mit den Münchner Philharmonikern aus der Taufe hob. In die Zeit von Hirschs Tätigkeit als Erster Kapellmeister an der Frankfurter Oper vor dem Beginn einer ausgreifenden internationalen Tätigkeit als Gastdirigent fiel nicht zuletzt die ihm anvertraute Uraufführung von Hans Zenders „Stephen Climax“. Möglicherweise hat Peter Hirsch auch von Zenders höchster Sensibilität dafür, welche wesentliche Rolle sämtliche Parameter von Musik und Musizieren in ihrer freien Handhabung für ihr Erscheinen spielen, gelernt, bis hin zu den oft übersehenen, als akzidentell unterschätzten Momenten des Auf- und Abtretens der Mitwirkenden, ihrem Verhalten also jenseits der künstlerischen Ausübung. Auf jeden Fall bezieht Hirsch seine ruhig, leise und im Übrigen auswendig vorgetragene verbale Einführung in das Konzept der Präsentation mit ein, ebenso wie er den Auftritt der Musikerinnen und Musiker und ihre Präsenz während des Konzertes behutsam choreografiert hat und somit deren gewissermaßen performativ extradiegetischen Anteile der Atmosphäre der Stille und Konzentration hier dankenswerter einmal nicht Abbruch leisten. Man könnte das mit Walter Benjamins berühmtem Konzept auch „Aura“ nennen.
Bei allem Suchen nach dem Neuen, besser: Ungehörten, hat Luigi Nono – Musikwissenschaft und -philosophie reflektierten das in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten deutlich – sich aus dem quasi per Geburtsort hergestellten Zusammenhang zur Geschichte nicht versucht zu suspendieren. So könnte man cum grano salis seine Idee eines „suono mobile“ in Verbindung mit der venezianischen Mehrchörigkeit sehen. Im Gegensatz zu den Komponisten des 16. Jahrhunderts wie Adrian Willaert, Giovanni Gabrieli, später Lodovico Viadana, die den alten metaphysischen Gedanken der Sphärenharmonie innerhalb der architektonischen Disposition des Markusdomes auf seinen multiplen, den Raum vielfältig ausdifferenzierenden Emporen konkretisierten, hat Nonos „beweglicher Klang“ nichts Statisches an sich. Vor allem aber vermeidet er zumindest symbolisch die externalisierte Materialität von Spielern und Instrumenten, wenn etwa in einem Schlüsselwerk der mittleren Periode, „..... sofferte onde serene ...“ für Klavier und Tonband (1976), der aktual spielende Musiker von den im Raum verteilten Lautsprechern weniger konfrontiert wird als sich der von ihm herrührende Klang von der unter dem Flügel befindlichen Schallquelle ausbreitet. Weder stößt der exzellente Pianist Jean-Pierre Collot also auf ihm fremde Subjekte, noch verdoppelt er sich zu einem sich selbst Anderen; vielmehr schickt er die Musik in die Ferne, aus der sie, verändert, gewachsen, zu ihm zurückkehrt.
Dass sich durch die Weiterentwicklungen des Klangs zum dumpfen Grollen einer Gran Cassa Assoziationen zur weltlichen Gattung der Oper, mithin der italienischen Tradition von Bellini, Donizetti und Verdi – vielleicht auch Rossini – herstellen, mag nicht Nonos Intention gewesen sein, ist aber mit seinem Denken und seiner praktischen Ästhetik auch nicht unvereinbar. Eine analoge, noch weit greifbarere Allusion überrascht im letzten Werk, das er vollenden konnte, „,Hay que caminar’ soñando“ für zwei Violinen von 1989, dessen drei Teile voneinander getrennt und über den Abend verteilt von Nina Takai und Viktor Stenhjem von im Raum wandernden Orten aus exaktest intoniert werden: Neben wie erstaunt sich findenden tonalen Klängen und elementaren Melodien begegnen sich am Ende sogar violinistische Spielformeln, ja, Etüdenmaterial. Nach dem jüngsten Stück ist das älteste programmiert, „Polifonica – Monodia – Ritmica“ für Ensemble von 1951, gespielt zudem in der Urfassung; die Solisten von „der/gelbe/klang“ hören ihre diffizilen Parts begeisternd akut aus, das Akademiemitglied Peter Hirsch dirigiert so präzise wie mit seinerseits vernehmbarem Involvement, das das Gros der Neue-Musik-Spezialisten nicht aufbringt.
Hirsch hat, zusätzlich zur Konzeption und Textauswahl, notabene auch die chronologisch umgekehrte Anordnung der Werke verantwortet, die neben ihrer ästhetischen Valenz und Sinnhaftigkeit einen nachgerade unschätzbaren Erkenntnisgewinn ermöglicht. Denn gerade in der Rückschau von 1951 zu 1989 erweist sich, dass musikgeschichtliche Verdinglichung wie das motivisch-rhythmische Insistieren à la Schönberg bis hin zur Zitation der fallenden Terz aus der „Arietta“ der letzten Klaviersonate von Beethoven, die zudem literarisch durch ihre Rezeption durch Thomas Mann und seinen Berater Adorno aufgeladen ist, auch schon beim jungen Luigi Nono vorkommen, nicht das Proprium bilden, aber eben auch nicht zu ignorieren sind.
Sibylle Canonica, ebenfalls Akademiemitglied, liest mit dem Charisma und der leisen Introversion, die nur der Meisterschauspielerin gegeben ist (von der Schönheit ihrer Stimme abgesehen), Gedichte und Texte von Friedrich Hölderlin, Walter Benjamin, Bertolt Brecht, Cesar Pavese, Velimir Chlebnikov, Julius Fucik und Edmond Jabès, die allesamt in Nonos Werk aufscheinen oder mit ihm in direkter Verbindung stehen. Sie skizzieren in nuce sein Denken, in dessen Horizont auch sein Komponieren steht. Sein kompositorisches Augen-, besser: Ohrenmerk, gilt zwar primär dem Noch-nicht-Gehörten, um hier die zunehmend als unbeholfen erscheinende Semantik von Fortschritt, Innovation, „Neuem“ zu umgehen. Doch Nono ist von Anfang an bewusst, dass sein Suchen unabwendbar in Zusammenhängen passiert, die man nicht besser denn als dialektisch benennen kann. Das gesuchte Ungehörte steht in einer Dialektik zur Geschichtlichkeit des Gehörten wie die gesellschaftliche Utopie zu derjenigen der unerhörten politischen Verhältnisse. Die Stille des hörenden Bewusstseins kann dem Lärm der Welt nicht nur nicht entrinnen, es trifft erst und gerade in ihrem Involvement mit den Lauten und damit dem Lauten auf sein sich nach Innen richtendes Selbstbewußsein: zu erfahren, wenn am Schluß von Außen hereinschallende Glocken und ein in dumpfer Tiefe hinabsteigendes Glissando eines Fahrzeugmotors sich auf eigentümlich harmonische Weise mit den Tönen von „,Hay que caminar’ soñando“ vermischen.
Die Idealität des Klanges schließlich ist nicht zu haben ohne die Materialität der Spielenden und der Hörenden, in die Reinheit der Musik ist die Physis von Atmen, Husten und Herzschlag notwendig eingewoben. Sie ist auch nicht zu vermeiden, sondern erweist sich, je mehr sie stört, in grundlegend dialektischer Spannung und nur scheinbar paradoxerweise als das Hören selbst. Anders als die Sphärenharmonie ist unsere Musik ohne den Menschen nicht zu denken – ein Humanismus, dessen Begriff verdächtig wird, wenn man ihn ausspricht, zu dessen Sache sich Luigi Nonos Musik aber ohne Worte in desto vehementerer Stille bekennt: als eine Ethik des Hörens.
Prof. Dr. Michael Bastian Weiß