Wolfgang Frühwald, der unserer Akademie seit 2010 angehörte, war etwas, das unter modernen Intellektuellen zumindest in Deutschland nicht alltäglich ist: ein bekennender Katholik. Doch weder der ecclesia triumphans noch der ecclesia militans ließ er sich zuzählen. Wolfgang Frühwald war vielmehr ein diskreter Christ, der mit leisen, doch eindringlichen Tönen – wie als Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft in der Genforschungsdebatte – seinen religiösen und ethischen Standpunkt vertrat. Es würde im Zusammenhang dieses Nachrufs zu weit führen, die an ihn ergangenen Rufe, seine Mitgliedschaften in Akademien, seine Positionen in der Universität und in diversen Wissenschaftsorganisationen, gipfelnd in der Präsidentschaft der Deutschen Forschungsgemeinschaft (1992-1997) und der Alexander von Humboldt-Stiftung (1999-2007), seine staatlichen Auszeichnungen und kulturellen Ehrungen wie seine Ehrendoktorate zwischen Dublin und Jerusalem aufzuzählen, die kaum zählbar sind und die zeigen, daß er eine der prägenden Persönlichkeiten des deutschen Wissenschaftslebens in den letzten Jahrzehnten gewesen ist.
Weniger auf Fakten als auf Strukturen sei das Augenmerk gelenkt. Und wie sieht die >Struktur Frühwald< aus? Wie Bert Brecht ist er in Augsburg geboren, ging dort zur Schule – machte hierselbst Abitur am humanistischen Gymnasium St. Anna. Sein Vater war Reichsbahninspektor, und auf den Schienen, für die sein Vater die Verantwortung trug, hat er einen guten Teil seiner Lebenszeit verbracht – ein permanent Reisender in Sachen der Wissenschaft, ihrer Organisation und öffentlichen Vermittlung. Anders als sein Landsmann Bert Brecht hat er freilich nie einen Anlaß gesehen, seine bayerisch-schwäbische Heimatstadt als »Scheißstadt« herabzusetzen, denn sie blieb trotz des häufigen Wechsels seiner Wirkungsstätten immer sein Wohnort, und eine gewisse bayerisch-schwäbische Bodenständigkeit, die bis zu gelinden Formen der Grobheit gehen konnte, war charakteristisch für seine Denk-, Rede- und Kommunikationsformen.
Die Wahl seiner Lehrer an der Universität München – Hugo Kuhn, Hermann Kunisch und Franz Schnabel zumal – und seine bald sich abzeichnenden Hauptarbeitsgebiete zeigen, daß Frühwald sich einer anderen Tradition der Intellektualität und der Literatur als der gemeinhin für spezifisch deutsch gehaltenen zugehörig fühlte. Er sah sich noch der großen Tradition christlicher Literatur dieses Jahrhunderts verpflichtet, die in den fünfziger und frühen sechziger Jahren noch so lebendig, heute aber nahezu abgebrochen scheint. Reinhold Schneider etwa, um dessen Werk Wolfgang Frühwald sich besonders verdient gemacht hat, ist inzwischen ein fast verschollener Autor. Daß er sich auf der anderen Seite für einen linksrevolutionären Schriftsteller wie Ernst Toller und die Autoren der deutschsprachigen Emigration nach 1933 publizistisch engagierte, zeigt, wie wenig sein wissenschaftliches Wirken auf einen eindeutigen Nenner zu bringen ist.
Als Mediävist – mit der geistlichen Prosa des Mittelalters: einer Dissertation über den »St. Georgener Prediger« – beginnend, hat Frühwald in seiner Habilitationsschrift über »Das Spätwerk Brentanos« eine Pionierleistung vollbracht. Seine philologische Sicherung des miserabel überlieferten und von – nicht zuletzt konfessionellen – Vorurteilen entstellten Werks und dessen Exegese von seinem zeitgeschichtlichen Hintergrund her ist ein eindrucksvolles Dokument der stillen Opposition Wolfgang Frühwalds gegen den kulturprotestantischen Literaturkanon. Unter ähnlichen Vorzeichen hat er sich anderen Romantikern wie Görres und Eichendorff zugewandt oder aber Adalbert Stifter – immer als Philologe der strengen Observanz: erst einmal muß der Text gesichert sein, dann gilt es diesen detailliert zu kommentieren und in seinem historischen Kontext zu analysieren, ehe man sich weitgespannte Gesamtdeutungen erlauben darf. Dieser Weg gewissenhafter philologischer Induktion hat Frühwald vor modischen ideologischen und literaturtheoretischen Schnellschüssen jeder Art bewahrt.
Frühwalds Affinität zur Romantik mag auf den ersten Blick verwunderlich sein, denn ein Romantiker im volksmündlichen Sinne war er mitnichten; dazu war er einfach zu bodenständig, zu nüchtern – wagen wir zu sagen: zu heilig-nüchtern –, allem Verstiegenen, Verquasten, Verschwärmten abhold. Und wenn der Volksmund Romantik mit Nostalgie und sentimentaler Rückwärtsschau verbindet, so war ihm diese das Allerfremdeste. Mit einem Lieblingswort Goethes (mit dem er sich in seiner letzten Lebenszeit immer mehr befaßt hat) hätte er sagen können, er >statuiere< kein Rückwärts. Frühwald war anders als wohl die meisten Gelehrten seines Fachs, sofern sie sich nicht ausschließlich mit Gegenwartsliteratur beschäftigen, ein durch und durch moderner Mensch. Das zeigt sich nicht nur in seiner zunehmenden Beschäftigung mit zeitgenössischen Autoren wie Botho Strauß und Durs Grünbein, sondern manifestierte sich von jeher gerade in seinem Umgang mit der Romantik, aus deren Werken er nicht das Schwanenlied einer verklärten Vergangenheit, sondern den Lerchengesang der Moderne heraushörte. Eine andere Romantik suchte er zu beschreiben, in welcher der rasche soziale, kulturelle und mentale Wandel im Zuge der revolutionären Bewegungen seit 1789 seismographisch nachzitterte und die zugleich den tabuisierenden Vorhang vor den Abgründen der menschlichen Seele weggezogen und der Tiefenpsychologie den Weg bereitet hat.
Frühwald hat sich schon als Fachwissenschaftler frühzeitig interdisziplinären Fragestellungen geöffnet, und ein Motiv für seinen Weg in die überfachliche Wissenschaftsöffentlichkeit und Wissenschaftspolitik war sicher vor allem die Neugier auf das Zusammenspiel der Wissenschaften und auf die Vermittlungsmöglichkeit der beiden Kulturen, die unser Weltbild so unselig in zwei Hälften zerreißen: der Geistes- bzw. Kultur- und der Naturwissenschaften. Daß er als erster Geisteswissenschaftler Präsident der DFG werden konnte, gründete in seiner ingeniösen Begabung als Dolmetscher zwischen den wissenschaftlichen Kulturen. Wer sich sein Buch »Zeit der Wissenschaft. Forschungskultur an der Schwelle zum 21. Jahrhundert« (1997) zu Gemüte führt, gerät immer wieder ins Staunen, wie schnell es ihm gelungen ist, sich in die verschiedensten Wissenschaftsbereiche einzuarbeiten, ihr Wesentliches zu erkennen und in einer luziden Sprache zu artikulieren. Eleganz der Diktion verbindet sich da mit einem Scharfsinn, bei dem einem jederzeit wohl ist, dem man ganz einfach >glaubt<, weil er sich immer an Fakten, ja an statistischem Material orientiert, die für den Leser immerzu nachprüfbar sind. Die in diesem Buch gesammelten Reden aus der Zeit seiner DFG-Präsidentschaft demonstrieren einmal mehr, wie sehr Frühwald ein mit allen aktuellen gesellschaftlichen Fragestellungen vertrauter Zeitbürger war, der deshalb von Politikern und Wirtschaftlern stets hoch respektiert worden ist, zumal er als Führungspersönlichkeit, souveräner Redner und Sitzungsmanager so gar nichts von einem dem Klischee nach >weltfremden< Geisteswissenschaftler hat.
Mit der oft allzu selbstsicheren Weltfremdheit der Gelehrten noch nicht ganz ferner Zeit ist Wolfgang Frühwald in einem seiner brillantesten Essays aus dem erwähnten Sammelband ins Gericht gegangen: »Die Wiederkehr der Mandarine. Zum Wandel des Gelehrtenbildes in moderner Zeit«. Da schreibt er:
In den Mandarinen, deren Erscheinungsbild wir alle noch in der Generation unserer Lehrer vor Augen haben, lebte ohne Zweifel das Ideal einer wahrhaften Geistesaristokratie, und es gibt unter ihnen große, die Zeit überragende Gestalten, an denen sich die Wissenschaftsgeschichte konturiert. Und doch sind sie – aufs Ganze gesehen – an ihrem eigenen Untergang in den Schrecken der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft nicht unschuldig gewesen. … Sie verweigerten sich dem Zeitalter der Massen und Maschinen und gaben sich … jenem kruden Antimodernismus hin, der die Illusion völliger Freiheit von Interessen hegte, … die Abneigung gegen die ökonomische und soziale Realität der neuen Zeit und die Sehnsucht, den Mechanismen des politischen Lebens zu entkommen.
Wolfgang Frühwalds Weg in die Wissenschaftspolitik ist nicht zuletzt vor diesem Erfahrungshintergrund zu sehen. Das Menetekel des Dritten Reichs, ein Gelehrtentum, das sich in die Welt des reinen Geistes zurückzuziehen trachtete und gerade so, wahrhaft in einem Salto mortale den reinen Geist an der geistlosen Macht zerschellen ließ – von der Geschichte gewogen und zu leicht befunden –, war Frühwald stets eine Warnung. Ein Gelehrter dieses überkommenen und überständigen Stils wollte er nicht sein – ein Gelehrter aber eben doch. Das Unbehagen, dem Wissenschaftsmanagement so vieles an eigenen wissenschaftlichen Plänen opfern zu müssen, hat ihn nie verlassen, und so hat er auf eine weitere Amtsperiode als DFG-Präsident verzichtet und ist seinerzeit in die Universitätslehre zurückgekehrt – mit bravourösem Erfolg! Frühwald war immer ein glänzender Universitätslehrer, dessen Vorlesungen die Hörsäle – selbst die Große Aula der Universität München – dicht füllten. Doch seit seiner Rückkehr zur Universitätslehre müssen seine Vorlesungen noch eine charismatische Dimension hinzugewonnen haben: Weltgewandtheit. Was manchen Wissenschaftsmanager mit Angst und Schrecken erfüllt: in die Forschung und Lehre zurückkehren zu müssen, weil sie längst nichts mehr zu forschen und zu lehren haben – das ist für Frühwald eine Freude gewesen: sich wieder auf sein Fach konzentrieren zu dürfen. Er wollte wieder ganz und gar – wenngleich nicht ausschließlich: die Präsidentschaft der Humboldt-Stiftung signalisierte es – Germanist sein, und deshalb hat er auch der Verführung widerstanden, sich auf den Guardini-Lehrstuhl in München berufen zu lassen und so endgültig eine fachlich exterritoriale Existenz zu führen.
In den wenigen Jahren seiner Mitgliedschaft in unserer Akademie hat Wolfgang Frühwald diese nicht so prägen können wie die anderen Institutionen, denen er in seinem langen Leben verbunden war. Daran hinderten ihn zumal Alter und Krankheit. Gleichwohl haben wir allen Anlaß, seiner in Dankbarkeit und Trauer zu gedenken.
Dieter Borchmeyer