Abteilung Literatur: Paul Wühr – Korrespondierendes Mitglied seit 2008
geb. 12. Juli 1927 in München – gest. 12. Juli 2016 in Passignano/Italien
Die Möglichkeiten, mit Poesie ins Ungesicherte vorzustoßen, also die Welt der sprachlichen Gewißheiten zu verlassen, dürfte kaum ein Dichter radikaler und produktiver genutzt haben als Paul Wühr. Seine Gedichte, seine Prosaschriften und Hörspiele sind sperrig, sie bewerfen den Leser oder Hörer mit Wortfetzen und Halbsätzen, die irritierend Ineinander greifen, durch keine Satzzeichen gestoppt, aber oft durch Zeilenenden schroff gekappt werden. Diese in den Raum gestellten Wort-, Satz- und Sinnkonglomerate verdichten sich nie zu einer Botschaft, die man getrost nach Hause tragen kann. Dafür aber provozieren sie eine Fülle heterogener Gedanken, Assoziationen und Bilder im Gegenüber. Ja, wer sich ihrem Rhythmus hingibt, kann Wörter wie Musik empfinden und Texte wie Klang-Kompositionen erleben.
Paul Wühr selber hat in seinen Lesungen vorgeführt, wie man sich von dem Wörterschwall in seinen Büchern davontragen lassen kann. Wenn er in fast singendem Ton über die klaffenden Sinnlücken in seinen Texten hinwegschwebte, verspürte man eine bezwingende Kraft, etwas Unbestimmt-Besonderes, das weder von vernunftgesättigten Wortkombinationen noch von symphonisch komponierten Musikstücken vermittelt werden kann. Das gezielte Hintereinandersetzen inhaltlich heterogener, rhythmisch widerspenstiger Sprachelemente löste im Hörer ein Gefühl des Schwebens über den Inhalten, ja des Ankommens im Reich der Poesie aus.
Paul Wühr hat sich schon in seiner Jugend literarisch betätigt und dann während seiner Zeit als Volksschullehrer mit O-Ton-Hörspielen Aufsehen erregt. Im Jahr 1971 ist ihm der Hörspielpreis der Kriegsblinden verliehen worden, dem in den Jahrzehnten danach noch viele prominente Literaturpreise folgen sollten. So hat er nacheinander den Petrarca-Preis, den Ernst-Meister-Preis für Lyrik, den Hans-Erich-Nossack-Preis und den Ernst-Jandl-Preis für Lyrik erhalten. Und im Jahr 1997 hat ihm die Bayerische Akademie der Schönen Künste ihren Großen Literaturpreis zuerkannt. 2008 ist Wühr dann auch als Mitglied in die Akademie aufgenommen worden.
Das Collage-Prinzip, das er in seinen Hörspielen anwandte, also das Ineinanderflechten von Alltagsfloskeln, Dialektbrocken und Bruchstücken aus der hohen Literatur, sollten auch für seine lyrischen Arbeiten und die auf sie reagierenden pseudotheoretisch-poetischen Texte bestimmend werden. Mit Beschwörungen einer Schönheit, die jenseits der Wahrheit existiert, wie in Das falsche Buch (1983) und Der faule Strick (1987), mit Prosaarbeiten wie Gegenmünchen (1970), einem anarchisch zerhauten Spiegelbild der Weltstadt mit Herz, und mit Gedichtbänden wie Grüß Gott ihr Mütter, ihr Väter, ihr Töchter, ihr Söhne (1979) und Dame Gott (2007) hat Wühr seine Kritiker und Freunde zu hohem Lob animiert. Und als er noch in München lebte und in der von ihm und seiner Frau Inge Poppe mitgegründeten Autorenbuchhandlung regelmäßig aus seinen Büchern vorlas, hat sich ein verschworener Freundeskreis um ihn geschart. Erst als sich das Paar Wühr-Poppe nach Italien in ein Haus oberhalb des Trasimener Sees zurückzog, wurde es stiller um den Autor Paul Wühr. Doch bei den jährlichen Treffen seiner Freunde in Deutschland wurden die neuesten Arbeiten aus Italien vorgestellt. Am 12. Juli 2016 ist Paul Wühr in seinem Haus in Umbrien im Alter von 89 Jahren gestorben.
Gottfried Knapp