Bedauerlich für unsere Akademie: Kaija Saariaho hatte schon bald nach ihrer Zuwahl als korrespondierendes Mitglied der Musikabteilung zugesagt, in der Reihe Wie klingt Europa im 21. Jahrhundert? mitzuwirken. Zusammen mit ihrer engsten Interpretin, der Flötistin Camilla Hoitenga. Aber durch die mehrfache Verschiebung, erst pandemiebedingt und dann gefesselt an den Rollstuhl, angeblich wegen eines Hüftleidens, konnte dieser Abend nicht mehr verwirklicht werden. Nur ein sehr enger Kreis wusste, dass Kaija einen unheilbaren Hirntumor hatte, an dem sie nun am 2. Juni 2023 in Paris verstorben ist.
Schon in ihrer Studienzeit in Freiburg und dann in Darmstadt 1986 sind wir uns persönlich begegnet, nachdem sie ins Pariser IRCAM (Institut de recherche et coordination acoustique/musique) eingeladen worden war. Dort lernte sie, akustisch-spektral Komponiertes mit live-elektronisch Geschaffenem zu einer faszinierenden und unverwechselbaren Einheit zu verbinden. Neben Jean Sibelius gilt sie nun schon lange als die eine finnische Weltgröße. Das bestätigen auch die weltweiten Nachrufe, etwa in der New York Times oder in der Washington Post:
„Kaija Saariaho, a Finnish-born composer whose music won international acclaim for its combination of sonic complexity and ethereal lyricism ... In career that spanned four decades, Ms. Saariaho wrote a dozen lengthy works for orchestra (with and without electronics), copious amounts of chamber music and vocal works, and five full-length operas. Her last piece, a trumpet concerto titled 'Hush', is scheduled to premiere in Helsinki in August. ... 'Experiencing a Saariaho work is less like listening to concert music than like entering a new, enveloping world: suspended, womblike, irratiated, numinous,' author and dramaturge Cori Ellison wrote in New York Times in 2010.” (Tim Page, The Washington Post, June 2nd 2023)
Aus meinem Zuwahlvorschlag vom Februar 2017:
„Die finnische Komponistin Kaija Saariaho wurde am 14. Oktober 1952 in Helsinki geboren. Sie studierte an der Sibelius-Akademie in Helsinki bei Paavo Heininen und gründete zusammen mit Magnus Lindberg und anderen die Gruppe Open Ears. Sie setzte ihre Ausbildung dann in Freiburg im Breisgau bei Brian Ferneyhough und Klaus Huber fort, nahm an den Darmstädter Ferienkursen teil und studierte ab 1982 am IRCAM im Centre Pompidou in Paris, wo sie immer noch lebt, computergestützte Komposition, Arbeit mit dem Tonband und Live-Elektronik.
Unter dem Einfluss der sogenannten Spektralisten wandte sich Saariaho einem Stil zu, der von lang gehaltenen Bassnoten und der Verwendung mikrotonaler Intervalle geprägt ist. In diesem Personalstil komponierte sie ihr bekanntestes Werk, Graal Théâtre für Violine und Orchester (1994–1997). Ihre Kompositionen wurden bei internationalen Festivals in London (1989), Jakarta (1989), Paris (1989, 1991) und Wien (1993) aufgeführt. Bei den Salzburger Festspielen dirigierte Kent Nagano 2000 mit großem Erfolg ihre erste Oper L'Amour de loin, 2006 fand die Uraufführung ihrer Oper Adriana Mater an der Opéra Bastille in Paris statt.
2010 erschien sie im jährlichen Komponistengespräch des Rheingau Musik Festivals als zweite Frau nach Sofia Gubaidulina. 2011 wurde der Einspielung ihrer Oper L'Amour de loin der Grammy Award in der Kategorie Best Opera Recording zuerkannt. 2012 wurde sie in die American Academy of Arts and Sciences gewählt. Sie erhielt, beginnend 1986 mit dem Musikpreis der Darmstädter Ferienkurse, zahlreiche Ehrungen und internationale Preise und wurde im Mai 2013 mit dem Polar Music Preis ausgezeichnet. Kaija Saariaho ist neben unserem korrespondierenden Mitglied Sofia Gubaidulina eine der wenigen Komponistinnen von und mit Weltgeltung und Weltbedeutung.“
„Ich träume sehr oft von der Musik, die ich gerade schreibe, aber auch von ganz anderen Klängen“, hat Kaija Saariaho einmal gesagt. „Das stört manchmal, aber noch schlimmer wäre, wenn ich nicht von Musik träumen würde. Dann Musik niederzuschreiben, macht mich glücklich. Mein innerliches Chaos lichtet sich so, wird klar. Und so bin ich immer pünktlich fertig. Hinter einem Abgabetermin herzuhecheln, dieser Druck würde mich verrückt machen. Regelmäßigkeit ist perfekt für mich.“
Lebenswichtig wurde ihr die Begegnung mit dem Komponisten Jean-Baptiste Barrière, der schon 1990 in Darmstadt wie ihr Tonassistent dabei gewesen ist, ihrem späteren Ehemann, mit dem sie zwei Kinder hat und der sich bewunderungswürdig nicht in den Vordergrund spielen musste. Sie habe sich während der Arbeit für neun Stunden eingeschlossen, berichtete Jean-Baptiste Barrière, und sie duldete keine Störung, sodass er die beiden Kinder „auf eine schnelle Flucht“ mitgenommen habe.
„To write music, concentration is necessary, an interior hearing“, sagte die Komponistin der New York Times. „To be a woman, to be a mother, one needs to be always available and busy. It's difficult to have, at the same time, your feet on the ground and your head in the sky. Certainly I don't make efforts to be mysterious. But music itself is a big mystery. We cannot really explain why music effects us so strongly. For me, music is as important as love, as powerful and inexplicable.“
In seinem fundierten Nachruf (FAZ vom 4.6.2023) berichtet der finnische, in Deutschland lehrende Musikologe Tomi Mäkelä von seinem ersten Besuch bei Frau Saariaho 1991 für die Zeitschrift Finnish Music Quartely.
„Sie hieß ihn herzlich neugierig willkommen – auf eine Art, die ihren Umgang mit Menschen auch später noch auszeichnete. Sie wirkte dynamisch, hochintellektuell, zeitlos und in der Lage, gleichzeitig ein Fachgespräch zu führen und sich unaufgeregt um ihren Sohn Aleksi Barrière (geboren 1989) zu kümmern, der in der Wohnung herumstolperte. Als im Juli 2021 Bilder aus Aix-en-Provence von einer offenbar schwer kranken Saariaho im Rollstuhl kursierten, blieb der Schock nicht aus.
Offiziell war von einem Hüftbruch die Rede. Nur der engste Kreis um Saariaho kannte die Wahrheit, andere rätselten. Ihr großes Publikum verschonte die Komponistin bis zuletzt. Die noch heute unheilbare Krankheit, das Glioblastom (ein Hirntumor), verbreitete sich schnell. Saariaho wollte kein Mitleid, nahm aber seit Februar 2021 jede professionelle Hilfe in Anspruch, um ein Werk noch abzuschließen und der experimentellen Krebsforschung zu helfen. Das war konsequent, denn als Künstlerin setzte sie stets die neueste Technologie ein, ohne aber das Wertvollste preiszugeben, was aus ihrer Sicht das Mensch-Sein bedingt: die emotionale Intelligenz.
In den letzten Jahren strahlte sie wie ein Nordstern am Himmel der Avantgarde. Nun gilt es die letzte Uraufführung zu erleben: das Trompetenkonzert Hush, das am 24. August 2023 in Helsinki unter Susanna Mälkki und dem Jazztrompeter Verneri Pohjola sowie dem Finnischen Rundfunkorchester stattfinden wird. Der Titel – Schweigen – deutet an, dass ihr das bald endgültige künstlerische Verstummen bewusst war. Auch mit der Gewissheit des schnell nahenden Todes konnte sie souverän, emotional und intelligent umgehen.“
(Tomi Mäkelä, Professor für Musikwissenschaft in Halle/Saale)
Peter Michael Hamel