Das Augsburger Leopold Mozart Konservatorium war Anfang der Sechzigerjahre ein brodelnder Kessel. Es gab unglaublich aufgeschlossene Dozenten. Anton Göttler war so einer. Er war Organist in Sankt Ulrich und Lehrer am Konservatorium. Um sich fit zu halten, gab er alle 14 Tage ein Orgelkonzert in Heilig Kreuz. Das Repertoire umfaßte die gesamte Orgelliteratur von Konrad Paumann bist zu Ligetis »Volumina«. Kiesewetter und ich durften bei diesen Konzerten umblättern und registrieren. Da wir uns auch für Vokalmusik interessierten, mußten wir auch in seinem Kammerchor mitwirken. Peter im Tenor, ich im Baß. Wir sagen Lasso, Distler, Schein, Schütz, Piechler und Otto Jochum.
Der »Musikphilosoph« Hermann Pfrogner galt als Guru der Münchner Musikhochschule. Viele Professoren lächelten über ihn, da er in Zeiten des Serialismus über die Seele in der Musik sprach, über Planetentöne, über die Wirkung von Tonarten auf den Menschen. Er machte uns bekannt mit dem »Lü der Chinesen« und dem japanischen Nô-Theater. Seine Vorlesungen waren eine Fundgrube. Pfrogner riet uns, Günter Bialas als Kompositionslehrer zu wählen, da er einen undoktrinären Unterricht durchführte.
Wir komponierten wie besessen für die Schublade. Doch Partituren müssen zum Klingen gebracht werden. So gründete ich die Konzertreihe musik unserer zeit, alles kleingeschrieben, wie es Mode war. Die Reihe widmete sich unseren neusten musikalischen Ergüssen. Da sich aber für unsere Kompositionen keiner interessierte, holten wir junge Interpreten wie Michael Leslie, Christiane Hampe, Volker Banfield und Edgar Krapp, die »Klassiker der Moderne« spielten. Kiesewetter dirigierte oder spielte am Klavier mit. Der Bayerische Rundfunk zeichnete die Konzerte auf, so hatten wir die Möglichkeit, unsere Stücke immer und wieder anzuhören und an uns zu arbeiten. Einmal im Jahr gab es ein Faschingskonzert, das uns soviel Geld einbrachte, daß wir das Jahr über unsere Konzerte mit neuer Musik finanzieren konnten. In diesen Faschingskonzerten erlebte Kiesewetter seinen Durchbruch als Komponist. Obwohl er sich mit Stücken wie Tango Pathetique oder »… und Isolde und Schwanenröschen« ausschließlich im Bereich der Parodie austobte, zeigten diese Kompositionen, die durchwegs von Studenten unter der Leitung von Heinz Winbeck uraufgeführt wurden, so viel Witz und handwerkliches Können, daß sie oft wiederholt werden mußten. Pfrogner war überglücklich. »Hier hat die neue Musik eine Zukunft!«, war sein Kommentar.
Peter und ich haben über Jahrzehnte hinweg viel miteinander diskutiert, aber die Gespräche konnten selten in die Tiefe gehen, da er ausschließlich in Zitaten aus Oper, Operette, Musical und Literatur sprach. Ich hatte immer das Gefühl, daß er sich damit vor der Umwelt schützen wollte, daß er den Schild des Lachens brauchte, um seine innere Traurigkeit vor den anderen zu verbergen. Er brachte seine Umwelt zum Lachen, lachte aber in Wirklichkeit nie mit. So waren seine Parodien von einem bitteren sarkastischen Ernst, oft geradezu von einer zerstörerischen Wirkung. Was wir damals nicht ahnen konnten, war die Tatsache, daß sich hinter dieser fröhlichen Maske ein liebenswürdiger, todtrauriger Clown verbarg. Erst sein Spätwerk, indem er sich intensiv mit dem Judentum auseinandersetzte, sollte dies zum Vorschein bringen.
Peter Kiesewetter, der seit 2004 Mitglied der Bayerischen Akademie der Schönen Künste war, verstarb am 3. Dezember 2012 in Egenhofen nach langer, schwerer Krankheit.
Wilfried Hiller