Die immense Achtung und der Respekt, welche der unbeschreiblich vielfältigen Lebensleistung von Dieter Rexroth (1941–2024) in einem bemerkenswert stringenten Unisono gezollt wurden, bilden sich in den zahlreichen Nachrufen wohl am deutlichsten ab: „Der Programmzauberer“ (Thomas Schmidt-Ott für das DSO Deutsches Symphonie-Orchester Berlin), „Der Musikermöglicher“ (Frederik Hanssen im Berliner “Tagesspiegel“), „Intellektuelle Brillanz, künstlerische Exzellenz“ (Bojan Budisavljevic in der NMZ). Man nannte ihn „Kurator von höchster Kreativität“, „rastloser Ideengeber“, „Meister der außergewöhnlichen Konzertprogramme“, „homme de lettres“, „Gelehrter“, „geborener Netzwerker“. Dieter Rexroth selbst definierte sich bescheiden nur als „Musikvermittler“, wo andere – wie sein Kollege Giselher Schubert in seinem Nachruf für das Hindemith-Institut – Worte stapelten, um den Magier der Musikvermittlung zu würdigen: „ein wirklich umfassend gebildeter, äußerst kompetenter, unaufdringlich überzeugungsmächtiger, tatkräftig-zuverlässiger und geduldiger Partner mit sehr viel Gespür für das Zumutbare, Angemessene und besonders auch für Niveau und Qualität“.
„Kompromisslose Qualität“ als Markenzeichen war auch das Schlüsselwort in der Würdigung des US-amerikanischen Dirigenten Kent Nagano, den Dieter Rexroth im Jahre 2000 an das DSO in Berlin zu binden wusste, um dann gemeinsam als engste Weggefährten große Taten zu vollbringen: „Mit Dieter Rexroth hat die Welt einen ihrer einflussreichsten Visionäre verloren, einen angesehenen Akademiker, einen Gelehrten und zutiefst scharfsinnigen Philosophen … Dieter Rexroth war für mich persönlich viel mehr. Sein Ideal, dass Qualität niemals kompromissfähig ist, stimulierte immer wieder unser aller Gewissen“.
Eine Vita dieser großen Persönlichkeit kann hier nur in Kürzeln angedeutet werden: am 6.3.1941 in Dresden geboren, ab 1945 in Lohr am Main aufgewachsen, studierte ab 1961 Musik (Komposition, Dirigieren, Schulmusik) in Köln, dann Musikwissenschaft, Germanistik, Philosophie, Geschichte in Bonn und Wien und promovierte 1970 über „Arnold Schönberg als Theoretiker der tonalen Harmonik“. Beruflich folgten der Kritikertätigkeit und dem Musikjournalismus (von der „Frankfurter Rundschau“ bis zu „Neue Zürcher Zeitung“) Tätigkeiten wie 1972–1991 als Geschäftsführer der Hindemith-Stiftung und erster Direktor des Paul Hindemith Instituts in Frankfurt am Main, Herausgeber der Hindemith-Jahrbücher und der Frankfurter Studien (immer begleitet von Konzertveranstaltungen und großen Festivals, Tagungen und Symposien.
1980–1994 „Alte Oper Frankfurt“ als Dramaturg und Programmgestalter, Mitbegründer der „Frankfurter Feste“. 1991–1995 Geschäftsführer und Intendant der „Frankfurter Projekte GmbH“. 1995–1996 Gründungsintendant des „Kulturbezirks“ in St. Pölten als neuer Landeshauptstadt von Niederösterreich, gefolgt von 1996–2006 als Geschäftsführer, Intendant und Leitender Gesamtdramaturg der Rundfunk-Orchester und -Chöre GmbH Berlin, Intendant des Deutschen Symphonie-Orchesters DSO Berlin. Seit 2000 Mitbegründer und Künstlerischer Leiter des Berliner Festivals „Young Euro Classic“. Von 2006–2013 Mitarbeiter von Kent Nagano an der Bayerischen Staatsoper und zeitgleich in Kanada Dramaturg und Assistent von Kent Nagano beim „Orchestre symphonique de Montréal“.
2006–2015 Künstlerischer Leiter der „Kasseler Musiktage“; 2014 Mitarbeit als Dramaturg bei den Münchner Philharmonikern; 2013–2016 Künstlerischer Leiter des „Felix-Mendelssohn-Bartholdy-Hochschulwettbewerbs“ in Leipzig.
Dieter Rexroth ist am 9. April 2024 gestorben.
In die Bayerische Akademie der Schönen Künste wurde Dieter Rexroth im Jahr 2015 als ordentliches Mitglied aufgenommen, wo es mir nun eine Ehre ist, für einen guten Freund den Nachruf verfassen zu dürfen. Persönlich begegnete ich Dieter seit den 70er-Jahren, wo ich erstmals in dem von ihm herausgegebenen Hindemith-Jahrbuch VIII meine Studie veröffentlichte „Prinzipien der rhythmischen Gestaltung in Hindemiths Oper Mathis der Maler“, gefolgt von weiteren Essays in den Jahrbüchern 1982 und 1984. In diesen Jahren intensiverer Zusammenarbeit erarbeitete ich mit Dieter Rexroth 1985 ein Hindemith-Symposium an der Münchner Musikhochschule mit dem Schwerpunkt einer Aufführung von Hindemiths letzter Oper „Das lange Weihnachtsmahl“ (Text: Thornton Wilder), die ich dann 1986 im Rahmen der Hindemith-Gesamtausgabe (Schott-Verlag Main) mit kritischem Bericht und Einleitung veröffentlichen durfte. Seitdem kreuzten sich unsere Wege immer wieder, wie beispielsweise im Juni 2014 zur Feier des 150. Geburtstages von Richard Strauss als ich – nunmehr in meiner Tätigkeit als Aufsichtsratsvorsitzender der GEMA – mit Dieter Rexroth die Programmgestaltung des Jubiläumskonzertes in der Berliner Philharmonie plante.
Dieter faszinierte durch seine unnachahmliche Mischung von Vornehmheit, Feinsinn, Universalität und Phantasie, die er in einer Herzlichkeit zu verbinden wusste, bei der gleichzeitig eine gehörige Portion intellektueller Schärfe und Hartnäckigkeit bis zur Streitbarkeit mitschwingen konnte. Vielleicht waren die „Loyalität“ und das „Dienen-Können“ das Geheimnis seiner dennoch stets herzlichen und freundlichen Person: Es ging nie um egomane Selbstdarstellung, sondern immer nur um die „Sache selbst“, einem kompositorischen Œuvre (ob Paul Hindemith oder Wolfgang Rihm) zu dienen, einer Veranstaltung, einem Festival oder Institution zu unnachahmlichem Profil zu verhelfen. Er war stets „Diener“, der im Hintergrund wirkte. Er glaubte an Kompositionen, an die zentrierende Kraft der Musik.
Als Mensch der Bücher und einer universalen Gelehrsamkeit blieb der intellektuelle Habitus niemals in einer dürren Theorielastigkeit eingekapselt. Vielmehr konnte Dieter Rexroth wie ein magischer Alchemist das trockene Wissen in eine menschenumarmende Weisheit verwandeln! Ein Philosoph als Macher. Bücherwissen über Musik war nur relevant, wenn es sich im Konzertsaal bewahrheitete: die praktische Transformation von Buchstaben, Notenschrift und von Geist in ein Klingendes, das dann die Menschheit zu Schwestern und Brüdern machte. Musik als ein Vereinendes – ob Kammermusik, Sinfonik, Chormusik (in seiner Berliner Zeit war Dieter Rexroth auch immer für Chöre wie den Berliner Rundfunkchor oder den RIAS Kammerchor zuständig) – und für die Jugendorchester. Sich parallel zur Arbeit als Kulturmanager immer auch für die Nachwuchsarbeit stark zu machen, darf man als zentral werten. Nicht umsonst gehörte er zum Gründerzirkel der „Young Euro Classic“, einem Festival für die exzellentesten Jugendorchester der Welt.
Typisch für Dieters optimistischen Grundsatz, niemals Nachwuchs und Jugend aus den Augen zu verlieren, konnte ich beispielsweise verfolgen, wie er die junge usbekische Komponistin Aziza Sadikova nach ihrem Studium in London zu fördern wusste. Und umso mehr berührt es mich, dass am 30. März 2024 (nur wenige Tage vor seinem Tod) in dem letzten von ihm programmatisch gestalteten Konzert des DSO unter Leitung von Kent Nagano die „Vivaldi-Jahreszeiten“ in einer zeitgenössischen Bearbeitung durch Aziza Sadikova erklangen – zusammen mit dem Klavierzyklus „Das Jahr“ der romantischen Komponistin Fanny Hensel sowie eingestreuten Gedichten von Friedrich Hölderlin: Außergewöhnliche Rexroth’sche Programmgestaltung in reinster Form.
Enjott Schneider