„Lerne vorzuziehen, was dir fremd ist“
Nachruf auf Claude Vigée
Claude Vigée war einer der wenigen ganz großen Lyriker unserer Zeit: mystisch, musikalisch, magisch, aber spielerisch; auf das Mensch-Sein und das Menschliche (und natürlich das Unmenschliche) anspielend – ohne einseitig oder belehrend zu sein.
Du Schneewelt der Kindheit,
Darfst du noch schweigend singen?
Das ist nicht aus einem frühen Gedicht Paul Celans (1920–1970), sondern von Claude Vigée (1921–2020), der fünfzig Jahre länger gegen das Vergessen ansang.
Mehrsprachigkeit, Flucht, Exil, Verlust des Großteils der Familie (bei Vigée 43 Familienmitglieder) hatten diese zwei – wie so viele – Juden gemeinsam. Aber, so Claude Vigée, „Das Unglück verleiht keine Rechte über die Realität.“ Flucht, Exil, Verlust sind relative Begriffe, die durch Wiederholung nicht weniger einmalig, und auch nicht einmaliger werden.
Vigées Wohnung in Paris war herrschaftlich und wirkte bescheiden; sie war so sparsam eingerichtet, als wäre sie ein Provisorium. War sie auch. Vier Jahrzehnte lang war Vigée das halbe Jahr in Jerusalem, die andere Hälfte in Paris. Zu Hause war er in den Sprachen Französisch, Deutsch, Englisch und Ivrit. Heimisch nur im Dialekt seiner Kindheit im unterelsässischen Bischwiller.
Im Elsaß war seine Familie seit zehn Generationen ansässig gewesen. Die Mehrzahl Tuchhändler. Geboren als Claude Strauss am 3. Januar 1921, ging er nach der Kindheit aufs Gymnasium in Strasbourg. 1940 marschierten die Deutschen ins Elsaß ein. Vertreibung. Die erste Zäsur. Der Verlust des Dialekts als Heimat traf ihn schwer und trug wesentlich dazu bei, daß er später zum Dichter wurde.
Claude Strauss begann, an der Universität Toulouse Medizin zu studieren. Dort schloß er sich der action juive, einer Gruppe von jüdischen Widerstandskämpfern an und wählte den Namen „Vigée“ (Vie, j’ai, wohl in Anlehnung an das biblische „Ani Chaj“, ich lebe). Bald veröffentlichte Claude Vigée erste Gedichte in Pierre Seghers' Untergrundzeitschrift „Poésie 1942“. 1943 floh er, 22-jährig, in die Vereinigten Staaten von Amerika. In den siebzehn Jahren dort schlug er keine wirklichen Wurzeln. Seit 1950 veröffentlichte er seine Gedichte in Frankreich. Natürlich beherrschte er die englische Sprache; er promovierte, übersetzte, unterrichtete und hatte schließlich eine Professur an der Brandeis University inne, als er 1960 einem Ruf nach Jerusalem an die Hebräische Universität folgte. Er pendelte jahrzehntelang zwischen Jerusalem (Juni bis November) und Paris (Dezember bis Mai). Nach seiner Pensionierung 1983 zog er ganz nach Paris.
Vigée kannte Celan in Paris, Buber in Jerusalem; er korrespondierte mit Eliot und Gide, übersetzte ins Französische Gedichte von Eliot (Four Quartets), Goethe, Rilke (dessen lyrischer Tonfall ihn wie sonst nur die Bibel prägte), und Rokeah. Eine Auswahl der Ehrungen und Preise, die der Lyriker Vigée erhielt: Grand Prix de Poésie de l’Académie française, Würth-Preis für Europäische Literatur, Prix Goncourt.
Mitglied unserer Akademie seit 2012, verstarb Claude Vigée am 2. Oktober 2020 in Paris kurz vor seinem 100. Geburtstag. Es ist auf mehreren Ebenen stimmig, daß er seine letzte Ruhe auf dem jüdischen Friedhof seiner Heimat Bischwiller gefunden hat. Und dort ruht auch seine Frau Evy seit 2007.
In Vigées Œuvre kommt der Ölbaum häufiger vor als die Asche. Nicht Ablehnung oder Vorwurf kennzeichnen sein Werk, sondern Annahme und natürlich das uralte lyrische, dem Gebet nahe Lob. „Sein heißt für den Menschen: demütig und geduldig das anzugehen, was ihm auf Erden noch fremd ist.“ Begriffe wie „Demut“ und „Geduld“ wirken heute unzeitgemäß. Aber vielleicht sind Gestern und Morgen wichtiger als unser kleines Heute. Vigée brauchte und fand Vertrauen, Mut, sich hinzuwenden zum noch Unbekannten und sich ihm zu öffnen.
Das Fremde und das Verlorene sind zwei nah beieinander stehende Zentralmotive im Werk. Ein verlorenes Paradies (wie bei Vigée die Sprache, die Mundart der Kindheit) kann sich verwandeln in ein verheißenes Land. Das Elsaß wird zu einer Art Israel (als Symbol, als Vorstellung), oder vielleicht eher umgekehrt. Zwischen deren zwei Sprachen empfand er eine geheimnisvolle Korrespondenz des Ursprünglichen. Seine Doppelidentität als Jude und Elsässer („Ich bin ein elsässischer Jude, also doppelt Jude und doppelt Elsässer.“) erlebt eine Art Versöhnung und Blüte „entre la Basse-Alsace et la Haute Judée“.
Das letzte Wort soll der Dichter haben: „Ich habe eine so fremdartige und kontrastreiche Erfahrung, daß ich mir ein Werk geschaffen habe im Abseits, fern von kurzlebigen Moden, und führe das Leben eines Schriftstellers, der zugleich Zeitzeuge, Reisender und am Rand stehender Mensch ist, der in seinem Gedächtnis mehrere simultane Existenzen vermischt.“ „Gewiß, das Leben in der Fremde wirkte in mir wie ein endloses Zerrissensein. Aber unter der stummen Nostalgie verbarg sich die Hoffnung auf eine unvorstellbare, zeitüberspringende Zukunft: >Jenseits des Eises<, trotz Zerstörung und drohender Sprachlosigkeit.“
Kevin Perryman