Korrespondierendes Mitglied der Abteilung Darstellende Kunst seit 1990
Patrice Chéreau, geboren 1944 in Lezigne (Westfrankreich), war der Sohn eines Malers und einer Zeichnerin. Als Jugendlicher spielte er in einer Schauspiellaiengruppe, mit 15 wurde er bereits als »Theaterwunderkind« gehandelt, vier Jahre später folgte seine erste Operninszenierung. Im Verlauf seiner über vier Jahrzehnte dauernden Karriere schuf er an die 60 Inszenierungen: Film, Oper, Theater. 1966, da war er gerade 22, übernahm er erstmals die Leitung eines Theaters. Immer wieder, im Verlauf seiner Karriere, stand er als Schauspieler auch selbst auf der Bühne.
Chéreau hat alle großen Werke der Opern- und Schauspielliteratur inszeniert: Von Offenbach, Mozart, Wagner, Berg, Strauss, Janácek. Von Marlowe, Shakespeare, Racine, Marivaux, Lenz. Moderne Autoren wie Bond, Genet, Koltès, Fosse, Strauß, Müller, Dorst. Weltweit von Paris über Berlin nach Tokyo. Einige seiner Filme, wie Ruhelos, Sein Bruder, Intimacy, Wer mich liebt nimmt den Zug, Die Bartholomäusnacht, wurden auf den großen Festivals gezeigt. Für seine Arbeiten wurde er mit zahlreichen Ehrungen und Auszeichnungen geehrt.
Immer wieder imponierend: seine Haltung, sein berufliches Ethos. Wähnte er sich zu jung oder »noch nicht so weit« für eine Inszenierung, für ein Projekt, das ihm angeboten wurde, oder war er noch zu verstrickt in eine andere Arbeit, die ihn persönlich noch länger beschäftigen sollte, so lehnte er ab. In Bayreuth habe er, so heißt es, Angebote der größten Opernhäuser der Welt ungelesen im Papierkorb entsorgt – mit dem Hinweis, er sei mit dem Ring noch nicht fertig, der würde ihn noch die nächsten Jahre beschäftigen. Egal, was es war – die Anfragen und Angebote landeten unbeantwortet im Papierkorb. Er ließ sich nicht verheizen, er verkaufte sich nicht. Er mußte zu dem, was er machte und tat, stehen können, dabei ging Chéreau so weit, die Salzburger Festspiele zu boykottieren, nachdem die rechtspopulistische Partei FPÖ Teil der Regierung geworden war. Jahre zuvor wurde er – nach dem Besuch des Prozesses gegen Václav Havel, dessen Stücke er in Frankreich inszenierte – vom Bürgersteig weg in ein Auto gezerrt und mitten im Wald an der Grenze wieder herausgeworfen, von wo aus er (ohne Papiere und Geld) nach Bayreuth flüchtete. Danach gründete er zusammen mit dem Schauspieler Yves Montand und dessen Frau Simone Signoret einen Verein zur Unterstützung politischer Häftlinge in der Tschechoslowakei.
Als Opernregisseur wurde er hier bei uns in Deutschland 1976 mit seinem Ring des Nibelungen in Bayreuth, seiner zweiten Operninszenierung überhaupt, bekannt. Einem breiteren Publikum sind seine Arbeiten für den Film ein Begriff, Intimacy (2001), Die Bartholomäusnacht (1994), um an dieser Stelle nur zwei, die wohl bekanntesten, zu nennen.
Über meine Zusammenarbeit mit Patrice Chéreau möchte ich sagen daß ich dafür sehr dankbar bin. Das erste Mal haben wir im Jahr 1992 zusammengearbeitet. Das war Alban Bergs Wozzeck in Paris, es dirigierte Daniel Barenboim. Es folgten Wiederaufnahmen an verschiedenen Opernhäusern weltweit. 2007 machten wir Tristan und Isolde an der Mailänder Scala, ebenfalls mit Daniel Barenboim.
Wie einige Mitglieder und Mitarbeiter der Akademie 2010 hier in München bei den Proben zu unserem Wesendonck-Liederabend für den Pariser Louvre miterleben konnten, war die Arbeit Chéreaus eine sehr intensive. Anders als viele seiner Kollegen begann Chéreau nicht mit einer Idee, die dann mit »Beweisen« gefüttert und unterlegt wurde, nein, er begann mit den »Beweisen«. Er wußte oft nicht im voraus, wo wir landen würden, wo eine Szene hinführen würde. Für ihn galt: »Es wird sich ergeben.« Wenn wir uns verrannten, eine Szene nicht aufging, gingen wir zu dem Punkt zurück, ab dem sie nicht mehr funktionierte – wenn es sein mußte, fingen wir bei Null, also wieder ganz von vorne an. Im Gegensatz zu vielen seiner Kollegen hielt er nie selbstverliebt an einer Idee fest, es mußte »stimmen«. Nicht er war wichtig, das Ergebnis war es, das ihn trieb.
Unsere letzte gemeinsame Arbeit war die Elektra in Aix-en-Provence in diesem Sommer. Zugleich seine letzte Arbeit, das wußten wir aber nicht. In allen der fünf Vorstellungen war er zugegen, jedesmal gab es Änderungen. Bis zuletzt. Nichts dem Zufall überlassend, perfektionierte er alles – wie auch beim Bayreuther Ring, bei dem er in Jeans und Turnschuhen sogar den Bühnennebel selbst versprüht haben soll. Für die Elektra-Wiederaufnahme im nächsten Frühjahr plante er bereits einen großen Teil meines ersten Auftritts zu ändern. Auch Kostüm und Perücke stimmten für ihn nicht mehr. Er hatte immer wieder den Mut, es neu anzugehen, weiterzugehen, die Sache weiterzutreiben. Wichtig für die Zusammenarbeit: Einwände und Vorbehalte seiner Schauspieler und Sänger hat Patrice immer ernst genommen. Auch wenn es wie ein Widerspruch klingen mag, so kompromißlos er in seiner Arbeit war, so ernst nahm er die Haltung und Einwände von uns Sängern auf. Als Sänger fühlte man sich bei ihm niemals einfach nur benutzt. Alles, was entwickelt wurde, war nur durch einen selbst und in diesem Augenblick möglich. Mit seiner Einfühlungsgabe schaffte er es, alles, wirklich alles aus uns Sängern herauszuholen. Das führte bei jeder Inszenierung zu einer intensiven gemeinsamen Wegstrecke, die durch seine Begleitung während der Vorstellungen noch gesteigert wurde. Er schenkte einem die bekannten Werke neu. Er schien mir oft wie eine Beethoven-Sonate: Nichts kann entfernt, nichts hinzugefügt werden.
Waltraud Meier