Was machen wir jetzt?, diese Frage hat mir Rudolf Wessely annähernd 30 Jahre lang gestellt. Ich habe nicht gleich verstanden, daß die Frage ein dauerndes Hinterfragen, ein Innehalten enthält: nicht Betriebsamkeit ist gemeint, sondern die Suche nach den Grundlagen und Grundsätzen: welche Rolle, welches Stück? und warum? Aber auch: wie geht es weiter mit dem Theater, mit den Münchner Kammerspielen und dann dem Bayerischen Staatsschauspiel, mit der Literatur, der Kunst und der Gesellschaft. Kurzum es ging immer um Alles. Rudolf Wessely war getrieben von »dem missionarischen Eifer, die Welt, die man als unbewohnbar empfindet, daß man diese verändern muß«. So sagte er es. In der Formulierung hörbar dem gestischen Sprechen Brechts verpflichtet.
Was machen wir jetzt?, diese Frage wurde gestellt – irgendwann natürlich nicht mehr überraschend, egal wann und wo wir uns trafen. Also eigentlich immer, da Rudolf Wessely allgegenwärtig im Theater war: in seiner Garderobe, in meinem Büro, gerne auch im Gang unmittelbar hinter der Bühnenpforte, wo er oft schon morgens mit seinem Text in der Hand auf einem der dort angebrachten Klappsitze saß. – charakteristisch seine Haltung: unterwegs, nicht seßhaft, offensichtlich bescheiden, aber strategisch die zentrale Stelle besetzend, bezeichnenderweise einen scheinbar provisorischen Klappsitz: die engste Stelle, die ins und aus dem Theater führt.
Der Hinweis, er habe doch gerade erst ein neues Stück zu probieren begonnen, wurde mit einer unwirschen Geste als irrelevant abgetan, darum ging es nicht, es ging um das Ganze. Die Frage war Anlaß für Diskussionen, über die Rolle der Kunst, nicht nur des Theaters, es ging um Aufklärung und Veränderung, um Sinn und Sinnlichkeit. Danach sollten sich die Stücke richten.
Das Theater war für Rudolf Wessely eine Lebensform, er sah seine Rollen nicht als eine Abfolge von einzelnen großen Rollen, von denen er aber natürlich sehr viele spielte, (denken wir an den Weltverbesserer, Cymbelin, Cäsar in Androklus und der Löwe, den eingebildet Kranken, Nathan den Weisen, den Alfredo in Der Narr und seine Frau), aber er spielte auch andere Rollen. Im Spiel machte er da keinen Unterschied, im Anspruch auch nicht. Ich erinnere an die radikale und deshalb so einprägende Darstellung des Kadmos in den Bakchen und des Vaters in der Alkestis, Pheres. Rudolf Wessely spielte im Ensemble (dieses war ja ein Kennzeichen des Dorn Theaters), aber in ganz besonderer Weise ist mir in Erinnerung sein Spiel mit den jeweiligen Partnern: Heide von Strombeck im Weltverbesserer, Gisela Stein in Glückliche Tage, Sibylle Canonica im Eingebildet Kranken, Fred Stillkrauth in Der Narr und seine Frau, Rolf Boysen in der Stiefel und sein Socken, zuletzt mit Jennifer Minetti in Penthesilea. Da wurde exemplarisch sichtbar, was miteinander spielen heißt, heißen kann. Es bleibt die Erinnerung an die Paare. - Zum Beispiel an das wunderbare Clownspaar mit Fred Stillkrauth (als Vittorio).
Vittorio:
Wenn ich du wäre, hätte ich mich längst nach einem anderen Partner umgesehen.
Alfredo:
Was nützt mir das? Dann wäre der andere ein anderer und ich selbst wäre immer noch derselbe. Was hätte ich davon?
Vittorio:
Stimmt. Wir beide müßten vollkommen andere Kerle sein. Dann würden wir uns auch besser von allen anderen abheben.
Alfredo:
Ich glaube das stimmt nicht. So war es früher einmal. Heute muß man genauso, und zwar hypergenauso sein wie alle anderen. Und darin, im Genausosein, muß man sie überbieten. Derselbe sein wie alle anderen, nur mit einem kleinen Kick mehr vom Selben. Darauf kommt`s heute an.
(Botho Strauß, Der Narr und seine Frau. Heute Abend in Pancomedia, Der Shuttle)
Genauso oder hypergenauso war Rudolf Wessely nie. Er war anders, er war eigen. Im Denken, in der Kleidung, in den Umgangsformen. Extravagant. So etwas wie ein »Außenseiter«; ein »Einzelkämpfer«, ein »Einzelstehender« so nannte er sich selbst. Auch elitär, in den Ansprüchen an sich. Nie aber habe ich von ihm eine Kritik der künstlerischen Leistung anderer Schauspieler gehört, durchaus aber Kritik an Stücken, an Regisseuren, an Kunst und Literatur, an Entscheidungen der Theaterleitung und an sich selbst.
Wie kam es zu seiner spezifischen, unverwechselbaren Spielweise? - Man kann sagen, daß sich Rudolf Wessely seine Schauspielschule und sein Theater selbst gebaut hat, und zwar theoretisch-programmatisch wie ganz buchstäblich materiell. - Als er den Krieg ein paar Tage früher, als er zu Ende war, für sich selbst in Wien beendet hatte, ging er nach Hause und dann zum Max-Reinhard-Seminar, wo er am ersten Tag nach dem Krieg zu studieren beginnen wollte. Er fand aber nur Trümmer vor, aber in diesen Trümmern eine Offenbarung, seine Offenbarung: das Buch Das politische Theater von Erwin Piscator, (das 1929 erschienen war und von dem er gehört hatte, es aber nicht gelesen hatte). Da stand schon auf dem Titelblatt: »Dieses Buch klagt an, verwirft, formt neu auf den Trümmern des dekadierten bürgerlichen Theaters« und darin stand: »Für uns ist das Buch, die Zeitung, der Film und auch das Theater ein Mittel, die Welt von heute zu kritisieren und die von morgen vorzubereiten. (...) Wir kennen im Grunde nur eine Tendenz: nämlich die Wahrheit zu sagen, (...)«. Daß das politische Theater auch das literarische sei, das stand bei Piscator. Daß diese Literatur nicht nur politisch, sondern auch ästhetisch hohen Ansprüchen genüge müsse, das war Rudolf Wesselys Ergänzung. Er las sehr viel und er las viel vor.
Er war Zeit seines Lebens überzeugt, daß Literatur Wahrheit sagen und produzieren könne und daß die Welt der Lüge und des Trugs durch Kunst veränderbar sei.
Zunächst bestand die konkrete Veränderung darin Trümmer wegzuräumen. Man muß aufräumen, dachte sich der künftige Schauspielschüler, und ging jeden Tag zum Max- Reinhard-Seminar, wo er, in seiner Erinnerung allein, den Schutt beseitigte. So erzählt er es in dem wunderbar unaufgeregten Film, Abendläuten, 2004, von Nina Hager, in dem Wessely überraschend freundlich und ruhig über sich, sein Leben, sein Tun und Denken spricht, bis hin zum, von Brecht literarisch abgesicherten, Vergnügen am »freundlich sein«.
Als der Unterricht losging, stand Stanislawski (1863–1938) auf dem Programm. Eine russische Schauspielerin und ehemalige Schülerin Stanislawskis unterrichtete dessen Schauspielmethode, die Methode der Identifikation mit der Rolle, der Einfühlung, des Als ob, und einer Wirklichkeitstreue, die auch über den wahrhaften Umgang mit den Requisiten erzeugt werden sollte. – Da wäre man gerne dabei gewesen, denn Wesselys Verhältnis zu den Dingen war auf der Bühne und im Leben nicht unproblematisch.
Nach einer einjährigen Ausbildung(1945/46) folgte eine rasche Folge verschiedener Engagements, in und mit denen Rudolf Wessely weiter an seinem Theater baute. Er arbeitete oft als Schauspieler und Dramaturg zugleich, bald auch als Regisseur, dann auch als Theaterleiter in Bern. Der entscheidende Schritt war die Reise nach Ost-Berlin, an das Deutsche Theater zu Wolfgang Langhoff, der ihn durch einen Vortrag in Wien von seiner Art Theater zu machen überzeugt hatte. In Berlin, Ost, machte er Karriere, eine große Karriere, auch als Regisseur und Schauspiellehrer (1950–58).
Allerdings war er auch begeistert von Brecht, dessen Theorie, seinen Stücken und seinen Gedichten. Dazwischen, zwischen Stanislawski und Brecht, zwischen Brecht und Langhoff. Spannungen und Widersprüche in der Theorie, aber konkret aufgelöst in der Theaterpraxis. Hier ist das Besondere des Schauspielers Rudolf Wessely zu finden, die Ursprünge seiner Spielweise. Nie sich der Einfühlung überlassen, aber auch nie aus der Rolle heraustretend. Artifiziell auch dort oder vielleicht gerade dort, wo der Zuschauer Übereinstimmung von Figur und Person zu sehen glaubte, z.B. als Weltverbesserer. Die reine Lehre Brechts hat Wessely nicht vertreten, aber sich auch nie den Emotionen überlassen. Ihm, einem ganz und gar emotionalen und sinnlichen Menschen, war Gefühl ohne Vernunft zuwider und ganz unverständlich. Ein Begeisterter, dessen Begeisterung sich in Engagement und Form äußerte.
Als die Widersprüche in den kulturpolitischen und politischen Debatten des realen Sozialismus der DDR nicht mehr auszuhalten waren und veranlaßt durch die Übersiedelung seines Freundes, des Schriftstellers und Chefdramaturgen des Deutschen Theaters Heinar Kipphardt, in den Westen, verließ auch Rudolf Wessely Ost-Berlin.
»… Und dann bin ich so durch die Welt gerannt«, sagte er über die folgenden Jahre.
Einen gewissen Schwerpunkt fand er dann am Burgtheater. Wien (1972–1987) und München (MK 1976–2001; Residenztheater 2001–2011) wurden zunehmend die festen Orte seines Arbeitens. Immer, wenn er nicht spielte, fuhr er nach Italien, wo seine Frau, die Sängerin und Malerin Marguerite Wood, wohnte.
Nicht immer konnte und wollte er sich zwischen den Möglichkeiten und Angeboten entscheiden, also pendelte er hin und her zwischen Wien und München. Er selbst zitierte zur Beschreibung dieser Situation gerne Brecht, wen sonst.
Der Radwechsel.
Ich sitze am Straßenhang.
Der Fahrer wechselt das Rad.
Ich bin nicht gern, wo ich herkomme.
Ich bin nicht gern, wo ich hinfahre.
Warum seh ich den Radwechsel
Mit Ungeduld?
Am wenigsten unerträglich fand er es dann in München, im Ensemble von Dieter Dorn, erst an den Münchner Kammerspielen, dann am Bayerischen Staatsschauspiel. Dorn war ihm ein Freund und es war selbstverständlich, daß er mit uns an das Bayerische Staatsschauspiel wechselte.
Der Weltverbesserer (Th. Bernhard), Ein Spielverderber (Handke, Das Spiel vom Fragen), (Regie Elmar Goerden), Alfredo (B. Strauß, Der Narr und seine Frau), Nathan der Weise, Der eingebildete Kranke, Kadmos (der tanzende Vater in den Bakchen), Der Caesar (Androklus und der Löwe), Einer der alten Männer in Leichtes Spiel. Neun Personen einer Frau. Pheres, der Vater des Königs, der lieber lebt als Ruhm erntet (Alkestis), die Rollen 2001–2011 wirken im Nachhinein wie ein eigener spezieller Spielplan. Die beiden letzten waren Der Grieche in Penthesilea, eine von mir für ihn erfundene Figur, und Jacob Pech im Käthchen von Heilbronn.
Rede zur Trauerfeier am 4. Mai 2016.
Hans-Joachim Ruckhäberle