Am 18. April 2018 verstarb Willibald Sauerländer in seinem 94. Lebensjahr in München. Mit ihm ist eine der führenden Koryphäen seines Fachs dahin gegangen. Er galt schon seit langem als der Doyen unter den deutschen Kunsthistorikern der zweiten Hälfte des 20.Jahrhunderts, eine weltweit geachtete Autorität, deren Stimme weit über das rein Wissenschaftliche hinaus Gewicht hatte. Schmerzlich haben wir seit einigen Jahren sein zunehmendes Fernbleiben von den Sitzungen unserer Akademie wahrgenommen, deren ordentliches Mitglied er seit 1997 war. Diese hat er durch seine schiere Anwesenheit belebt, durch seinen kritischen Geist, mit dem er zur Diskussion stehenden Themen oftmals nur mit einem einzigen Gedanken eine neue Richtung zu geben vermochte. Seine singuläre Fähigkeit zur scharfsinnig-knappen Analyse differenzierter Sachverhalte ruhte primär in seiner Gabe des gleichsam hin fühlenden Zuhören-Könnens. Willibald Sauerländer war immer ein Mensch des Dialogs. Dabei hat er selten ein Blatt vor den Mund genommen und gerade auch in Debatten über Kulturpolitik zuweilen scharfzüngig zu argumentieren verstanden.
Am 29. Februar 1924 in Waldsee als Sohn eines Malers geboren, studierte er von 1946 bis 1953 in München, wo er bei Hans Jantzen mit einer Dissertation über »Das gotische Figurenportal in Frankreich« promoviert wurde. Wie mit einer Stimmgabel war hier das zentrale Thema seiner späteren Forschungen angeklungen, das seit den Fünfzigerjahren über ein halbes Jahrhundert die Bibliographie dieses Gelehrten dominierte. Sie umfaßt wichtige Standardwerke des Fachs, so etwa – 1963 ediert – »Die Skulptur des Mittelalters«, das 1970 erschienene Buch »Gotische Skulptur in Frankreich. 1140-1270« und sein 1990 veröffentlichtes Werk »Das Jahrhundert der großen Kathedralen 1140-1260«. Daneben entstanden zahlreiche, die Forschung nachhaltig beeinflussende Aufsätze, so etwa sein schon 1956 erschienener Beitrag zu den allegorischen Landschaften des späten Poussin, denen er sich in seiner letzten, kurz vor seinem Tod im wesentlichen fertig gestellten und hoffentlich bald erscheinenden Publikation noch einmal widmete.
Nach einigen Jahren als »Lecteur allemand« im geliebten Paris, wohin er mit seiner Frau im Anschluß an seine Dissertation gezogen war und nach einem Aufenthalt am »Institute for advanced study« in Princeton 1961/62 habilitierte sich Sauerländer und war danach – unterbrochen durch Lehraufträge an der New York University, der später noch weitere in Berkeley und Washington folgten – acht Jahre Ordinarius an der Universität Freiburg im Breisgau. Von 1970 bis zu seiner Emeritierung 1989 leitete er schließlich das Zentralinstitut für Kunstgeschichte in München, dessen Kontakte zur internationalen Forschung er stetig ausbaute. Dabei war es ihm geradezu eine Herzensangelegenheit, schon lange geknüpfte kollegiale und freundschaftliche Verbindungen zu jüdischen Emigranten wie Richard Krautheimer und Hanns Swarzenski zu vertiefen. Mit dem 1968 verstorbenen Erwin Panofsky war es ebenfalls früh zu persönlichen Begegnungen gekommen, von denen er immer wieder mit emotionaler Rührung sprach.
In den mehr als zwei Jahrzehnten nach Eintritt in den Ruhestand publizierte Sauerländer weiterhin zu Themen mittelalterlicher Kunst, aber auch zu Rubens und Manet bis hin zu Barnett Newman und Mark Rothko, ein wahrhaft weit gespannter Radius. Daneben eröffnete sich für ihn ein gleichsam neues »zweites Leben«, indem er für das Feuilleton der Süddeutschen Zeitung zahlreiche Ausstellungsrezensionen von höchster inhaltlicher Dichte und sprachlicher Brillanz verfaßte, die das Renommee dieser Zeitung im Bereich der Kultur über Jahre adelte. So wurde unversehens aus dem bedeutenden Wissenschaftler ein nach eigenem Bekunden dem »akademischen Papageienkäfig entkommener« überragender »Feuilletonist«. In diesem Begriff verbanden sich in seinem
Verständnis literarische Fundierung und Kennerschaft mit einem durchaus zeitgenössischen Blick, was jenen geistigen Reichtum bewirkte, an welchem jeder Leser genüßlich teilhaben konnte. Nie hat sich in Sauerländers Zeitungsbeiträgen ein abgehoben intellektueller Ton verselbständigt, denn in seiner Argumentation hielten sich die historischen Fakten und das Visuelle, das Reflektive und das unmittelbar sinnliche Seherlebnis die Waage.
Willibald Sauerländer ist die seltene Gnade eines langen und erfüllten Lebens beschieden gewesen. Man hätte ihn in seinen späten Jahren als einen der letzten lebenden Zeugen einer längst vergangenen Epoche betrachten können, wäre er nicht in so phänomenaler Weise bis ans Ende seines Lebens auch den neuesten Entwicklungen der Zeit – etwa den Herausforderungen der Bild-und Medienwissenschaften – gegenüber zugewandt gewesen, die er hellwach und kritisch beobachtete wie kommentierte. Er ist über die Jahrzehnte im Geist frisch und vor allem von einer unstillbaren Neugier erfüllt geblieben, was ihn selbst im Greisenalter jung erscheinen ließ. Mit seiner geschliffenen Diktion korrespondierte ein Schreibstil von kristalliner Klarheit, zu dem sich seine auffallend zierliche, fast minuskelhafte und nicht immer leicht entzifferbare Handschrift gesellte. Statt Selbstsicherheit offenbarte sie eine zarte, ja geradezu scheue Fragilität, wie sie sich auch in den tieferen, geheimen Schichten seines Charakters zu spiegeln schien.
Uns nachfolgenden Generationen bleibt nur, sich vor der Lebensleistung Willibald Sauerländers, dieses unvergleichlichen und inspirierenden Genius in Dankbarkeit zu verneigen.
Michael Semff