Ich bin gerufen worden und fühle mich berufen, in diesem Kreis vor allem, ein Abschiedswort zu Wisława Szymborska zu sagen. Und gerade das fällt mir schwer. Auf ihre Gedichte stieß ich in der Mitte der fünfziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts, etwa 1956, als ich an meinem ersten Buch mit polnischer Lyrik gearbeitet habe. Das Buch war 1958 im Entwurf fertig und konnte 1959 im Carl Hanser Verlag in München erscheinen. Ich gab ihm den Titel Lektion der Stille, den Titel eines polnischen Gedichts. In diesem 83 Seiten dünnen Bändchen waren drei junge uns völlig unbekannte Namen bevorzugt vertreten: Tadeusz Różewicz (vier Gedichte), Zbigniew Herbert (drei Gedichte) und Wisława Szymborska (drei Gedichte). Alle sehr kurz, schlank, sehr modern, sehr einfach, aber überraschend dicht. Vielsagend. Dichtung.
Ende 1959 fuhr ich (zum ersten Mal nach dem Krieg) nach Polen, nach Krakau, um die »Lektion« den Autoren, »meiner Wahlverwandtschaft« in aller »Stille« zurückzuerstatten. Wisława Szymborska war die erste unter den jungen Autoren, uns im Westen völlig unbekannt, die ich in Krakau antraf und persönlich kennenlernen konnte. (Czesław Miłosz war schon in Berkley, Różewicz irgendwo auf Lesereise im Osten und Zbigniew Herbert in Paris. In jenen Jahren nutzten die polnischen Schriftsteller jede Gelegenheit, um für erlaubte oder unerlaubte Zeit, auf welchen Wegen immer, »draußen« freiere Luft zu atmen. Sie, wir alle, halfen ihnen dabei.
Szymborska war keine Globetrotterin, sie reiste ungern, war an ihren Mutterboden wie angewachsen. Einsprachig. Unsere Bekanntschaft vertiefte sich zur Freundschaft, als Kornel Filipowicz ihr Lebenspartner, bald ebenfalls Hanser-Autor wurde. Sie und er stellten eine organische Verbindung, Einheit und Ganzheit dar. Trotz der Verschiedenheit ihrer Lyrik und seiner Prosa – oder vielleicht gerade deshalb. Ich kannte beide zusammen, ihn sogar besser, er war mein Cicerone durch Krakau, mein Intimus, stets hilfsbereit, stadtbewandert, einfühlsam, mit einem unaufdringlichen Talent zur Kameradschaft.
Szymborskas Lyrik hatte mich dagegen elektrisiert. Zwei Motivkreisen verpflichtet – dem Einzelschicksal des Menschen im Verhältnis zur Geschichte und dem destruktiven Drang der Kreatur im Verhältnis zum Kosmos. Und alles frei von nationalen, ideologischen oder konfessionellen Kriterien; auch als Sprachkünstlerin völlig unabhängig von literarischen Moden oder Zwängen. Dabei diese Einfachheit und Leichtigkeit ihrer von Thema zu Thema variationsreichen Sprache, getragen wie von zwei verschieden gearteten Flügeln einer eigen-artigen Anmut und femininen Ironie. (»Sie hat der banalen Wahrheit des Paradoxon gegeben« – Zbigniew Bieokowski).
Bewegt schlage ich heute die über 50 Jahre alte zerfledderte »Lektion« auf und lese darin Szymborskas erste »Kleinanzeigen«:
Ich lehre das Schweigen
in allen Sprachen
nach der Methode der Betrachtung
des Sternenhimmels,
des Sinanthropus,
der Heupferdchensprünge,
der Säuglingsnägel,
des Planktons,
der Schneeflocke.
Und die andere:
Wer immer weiß wo sich das Mitleid
(Phantasie des Herzens) befindet
– möge sich melden, möge sich melden!…
Ich empfinde tiefe Trauer – wie viele von uns, das weiß ich, – ob des Verlusts, den die polnische Literatur und Europas Kultur erlitten haben. Szymborskas Dichtung darf nicht in Vergessenheit geraten. Sie bleibt, weil wir sie brauchen.
Karl Dedecius
Nachsatz
Ihren Nekrolog schrieb Szymborska vorsorglich schon 1962, vor 50 Jahren, um ein für alle Male keine Irrtümer aufkommen zu lassen:
Hier ruht, altmodisch wie das Komma, eine Verfasserin von ein paar Versen. Die Gebeine genießen Frieden in den ewigen Gärten, obwohl sie keiner Literatengruppe angehörten. Drum schmückt nichts Bessres ihre Totenstätte als dieser Reim, die Eule und die Klette. Passant, hol den Computer aus dem Aktenfach und denk über Szymborskas Los ein wenig nach.