(22. Januar 1943 in Mannheim – 12. Dezember 2018 in Frankfurt am Main)
Wilhelm Genazino war ein Schriftsteller, wie er nicht vorgesehen war in den literarischen Schubladen jener Bundesrepublik, die man heute liebevoll die „alte“ nennt. Er war kein Ideologe und kein Realist, kein Kahlschlagsromancier und kein verspäteter Gruppe 47er, aber beileibe auch kein Mann einer neuen Innerlichkeit oder wie immer man das damals nannte. Er war einfach-kompliziert nur Wilhelm Genazino.
Doch eben: auch das blieb ein Fall für sich. Denn Genazino war außerdem auch ganz anders, als etwa ein Leser, der seit Der Fleck, die Jacke, die Zimmer, der Schmerz keinen Genazino-Roman mehr ausgelassen hatte, sich den Autor all dieser beweglichen, leichten, unvorhersehbaren und stets so sonderbar betitelten Bücher vorgestellt hätte – was auch viel aussagt von der Macht der Sprache über die Einbildungskraft. Statt der filigranen Mischung aus Eichendorff und Robert Walser, Beckett und Kafka – denn viele von Genazinos Lieblingen gehörten zu dieser literarischen Gattung der Hungerkünstler –, stand da ein höchst gewichtiger Mann von größter Präsenz. Wilhelm Genazino war kein Hungerkünstler, er war gewichtig in jedem Sinne, und erst nachdem man ihn besser kennenlernte, begriff man, dass er sich selber viel ähnlicher war als die romantische Vorstellung zwischen Taugenichts und Flaneur, die man sich von ihm gemacht hatte.
Und um die persönliche Erinnerung einzuflechten in das Gedenken an den Lebenden: Auch unsere erste Begegnung war kurios anders, als sie von Rechts wegen hätte sein müssen. Die erste Verabredung mit diesem eingefleischten Frankfurter und Städter erfolgte nämlich ausgerechnet im Biergarten des schwerstbayrischen Klosters Andechs, also in jenem pittoresken, von Mönchen und Touristen bevölkerten Ort, den die Bayern ihren „heiligen Berg“ nennen. Standesgemäß tranken wir zu den erstaunlichen Klängen der Blasmusik einen großen Humpen heiliges Bier, und zum ersten Mal konnte ich jenen gedehnten Blick wahrnehmen, der zugleich aufmerksam und spöttisch war, ungläubig und hingerissen – sozusagen ein inneres ironisch-verzweifeltes Kopfschütteln, die intensive Beobachtung von Menschen in seltsamen Kostümen und mit enormem Durst auf das heilige Bier. Irgendwann begann es leicht zu regnen und wir gingen noch auf ein paar Minuten hinein. Vielleicht hat er sich ein paar dieser grandiosen Szenen auf einen jener legendären Zettel notiert, die den Fundus seiner Bücher bilden.
Genazinos Bücher! Wollte man die Geschichte von Genazinos Schreiben erzählen, von seinem Denken, von seinem Blick auf diese in der Tat nicht ganz vollkommene Welt, was könnte heller leuchten als die Reihe seiner Buchtitel. Nach dem eher diskreten Anfang mit Abschaffel ging es dann schnell zur Sache: Die Vernichtung der Sorgen, Falsche Jahre, Die Ausschweifung, Fremde Kämpfe, Die Liebe zur Einfalt, Leise singende Frauen. Gibt es einen hinreißenderen, sprechenderen Titel als Die Obdachlosigkeit der Fische? Eine selbstverständlichere, alltäglichere Epiphanie als Das Licht brennt ein Loch in den Tag? Natürlich, was sonst als Ein Regenschirm für diesen Tag und ein zweiter für morgen! Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman war schon eine halbe Autobiographie; Die Liebesblödigkeit ersetzte Regalmeter an erotolgischer Fachliteratur; Das Glück in glücksfernen Zeiten machte alle Ratgeber überflüssig. Wenn wir Tiere wären weckte die Erinnerung an den heiligen Berg (aber nicht nur), und Bei Regen im Saal ist tatsächlich die ultimative Metapher für das, was einer früher „Das Leben an sich“ genannt hätte.
Gibt es einen Schriftsteller mit einer schöneren, ja auch nur mit einer halb, einer viertel so schönen Werkreihe? Idyllen in der Halbnatur, dieser Lieblingstitel war mir immer nicht nur als Gesamtcharakteristik seines Lebenswerks erschienen, sondern ist mir bis heute die programmatische Formel für das, was ein Roman in unserer heutigen sonderbaren Welt sein könnte und sein sollte. Manch einer mag diese Reihe (übergangen sind so phänomenale Trouvaillen wie Außer uns spricht niemand über uns, Der gedehnte Blick, Auf der Kippe, Die Belebung der toten Winkel, Der Hausschrat) einfach nur witzig finden und sie als Bestätigung nehmen für das oft wiederholte Klischee, Genazino habe immer nur dasselbe Buch wiederholt. Was für ein Unsinn! Und was für eine Spanne allein von der poetischen Schlussapotheose des zeltgeschützten kleinen Jungen auf seinem Balkon im Regenschirm von 2001 bis zu der quälend komischen Hoffnungslosigkeit all der gescheiterten Philosophen in den späten Romanen, die im Untergang nach Rettung verlangen und doch nicht wissen, ob sie überhaupt gerettet werden wollen.
Kein Geld, keine Uhr, keine Mütze ist nun der letzte dieser Titel geblieben. Traurig aber mit einem tiefen Bewusstsein von dem Glück, in glücksfernen Zeiten diesen Wilhelm Genazino gekannt zu haben, erinnere ich mich an das Telefongespräch, als er nach mehreren anderen Ideen seinem Lektor diesen Titel vorlas. Habemus! Was mag man nicht alles überstehen! Kein Geld! Schlimm genug! Keine Uhr! Kann man drauf verzichten. Aber keine Mütze – das schien mir das definitive Bild für die Diagnose transzendentale Obdachlosigkeit. Und zugleich ahnte man bereits etwas hindurch von einem Vorgefühl des drohenden Abhandenkommens, das man in den letzten Jahren bei Genazino hin und wieder spürte. Dagegen hilft wohl nicht einmal Literatur, Poesie? Und dennoch:
„Die Kunst wird sein, die Worte in der Schwebe zu halten und den Ausdruck des Gedichts nicht zu beginnen. Der immer wieder andrängenden Ungeschriebenheit des Gedichts werde ich mein längstes Verstehen widmen müssen. Ein paar leise singende Frauen überqueren die Braubachstraße. Schon greift das von mir bloß umhergetragene Gedicht nach dem Klang der Stimmen und fügt ihm den Klang der Worte zu. Da spüre ich zum ersten Mal, wie unerhört es sein wird, fortan in einem nicht endenden Gedicht zu leben.“
Die Stimme von Wilhelm Genazino wird uns noch lange begleiten.
Wolfgang Matz