Bis zum Abflug der Maschine war es noch so lang hin, dass man nur zögernd meine Tasche angenommen hatte. Ich saß zusammengesunken auf einem Stuhl in der Wartehalle, eine ungeöffnete Ausgabe der ZEIT auf dem Schoß, und überlegte, ob es überhaupt noch einen Sinn für mich hätte, zu dem kleinen Tabakladen links neben dem Eingang der Wartehalle zu gehen und ein rotes, altmodisches Päckchen Roth-Händle zu kaufen, diese starken Zigaretten, die man nur in Deutschland bekommt und die mit ihrer bitteren Nikotinladung das Wurmblut in meinen Adern noch in einem zumindest bewegungsähnlichen Zustand halten konnten.
Dies war der Zustand am Montag, dem 13. Oktober 1969, um 16:35 nachmittags. Hier beginnt nun ein Roman. Gott weiß, wie er enden wird.
Dieser Roman Herr Gustafsson persönlich, der eine schwere Lebenskrise und eine Lebensrettung erzählt, erschien 1971 in Stockholm und ein Jahr später in München und machte Lars Gustafsson über den Kreis derer bekannt, die bereits 1967 seinen von seinem Freund Hans Magnus Enzensberger übersetzten Gedichtband Die Maschinen als ein Ereignis bestaunt hatten. Enzensberger hatte den damals dreißigjährigen Dichter in Berlin mit den Worten vorgestellt:
Gustafsson hat - und von wie vielen Poeten kann man das sagen? - die formale Logik, die Philosophie der Alltagssprache, die strengen Labyrinthe der angelsächsischen Erkenntnistheorie, durchaus studiert. Seine Poetik räumt mit alten Geheimnissen auf, sie führt zu einer Deutlichkeit, die ›eigentümlich‹ ist, so eigentümlich, dass im kühlen klaren Spiegel des Gedichts eine seltene Beute erscheint, etwas Logisches, das nicht dürr, und etwas Phantastisches, das nicht trübe ist.
Gustafsson kam wie sein Freund Tomas Tranströmer aus Västeras, westlich von Stockholm, einer Provinzstadt durch und durch. Er redigierte in der Hauptstadt eine renommierte Literaturzeitschrift, schrieb Gedichte und Rezensionen und erste Romane, hatte aber sehr deutlich das Gefühl, »den Boden unter den Füßen verloren zu haben«, wie es in seinem Roman Wollsachen hieß, dem zweiten einer Romanfolge, Risse in der Mauer, in der fünf verschiedene Ausprägungen seiner eigenen Person die sich verändernde Welt um 1968 erleben. Gustafsson ging Anfang der siebziger Jahre nach Berlin. In seinem Palast der Erinnerung schreibt er:
Noch heute kann ich mir nicht vorstellen, wie ich ohne die Großzügigkeit der Stadt Berlin ein Projekt wie Risse in der Mauer hätte verwirklichen können. In meinem Heimatland hätte man wohl am liebsten gesehen, dass ich die schriftstellerische Tätigkeit aufgab. (Man scheute sich nicht einmal, dies öffentlich zu sagen.).
Weil in der Folge fast jedes Jahr ein Buch von ihm in der Übersetzung von Verena Reichel erscheint - »meine Übersetzerin hat oft eine größere stilistische Begebung als ich« - ,halten viele ihn für einen deutschen Schriftsteller - einen wie ihn hatte die deutsche Literatur damals nicht: Einen Romancier, der moralphilosophische Probleme mühelos in einen Roman kleiden konnte; einen klugen Essayisten, der die Leser nicht mit seinen Meinungen traktierte, sondern Ideen entfaltete; einen naturwissenschaftlich orientierten Denker, der immer eine unerwartete Perspektive auf die Welt einnahm - und dabei war er immer auch unterhaltsam und auf eine sehr altmodische Weise witzig. »Wir fangen noch einmal an. Wir geben nicht auf« - diese zwei kurzen Anfangssätze aus dem Roman Wollsachen wurden damals zu viel zitierten Hoffnungssätzen. Später wurde er einige Zeit Professor in Austin/Texas und schrieb »amerikanische« Romane, aber immer kam ein Schwede vor, der sich an die nassen Wollsachen seiner Kindheit erinnerte - nasse Wollsachen! Es gab keinen, der den eigentümlichen Geruch nasser Wollsachen so beschreiben konnte wie er!
Dabei war Lars Gustafsson - mit dem ich seit mehr als vierzig Jahren befreundet war - weiß Gott kein Weichspüler. Aber er hatte, bei aller Skepsis und Bitterkeit, ein Weltvertrauen, eine prinzipielle Neigung zum Licht, zum Sonnenaufgang, zur Helligkeit und zur Wärme, was bei einem, der so oft über den Schnee, die klirrende Kälte und das Eis geschrieben hat, verwunderlich klingt. Das kann besonders bei dem großartigen Dichter Lars Gustafsson nachgelesen werden. Es gibt nur diese Welt, ruft er uns zu, es gibt keine andere. Aber eben diese Welt, die wir selbst schaffen und auf die schrecklichste Weise malträtieren, die wir angeblich immer verbessern wollen, aber in Wahrheit alles tun, um sie immer unbewohnbarer zu machen - diese Welt, die sich ständig ändert und ständig neu interpretiert werden muß, kennen wir nur sehr oberflächlich. Da tut es gut, einen wie Lars Gustafsson als Begleiter zu haben.
Zu seinem 60. Geburtstag lud er in das Landhaus eines schwedischen Freundes ein, der mit Verschlüssen für Milchtüten buchstäblich Milliarden verdient hatte. Weil ich offenbar ein nicht besonders glückliches Gesicht zwischen all den Frack- und Smokingträgern machte, fragte mich Lars, wie er mich aufheitern könne. Meine Antwort: ich möchte einen Elch sehen, der dort unten majestätisch über die Wiese stolziert. Ein kurzes Gespräch von ihm mit Mr Tetrapack, und zehn Minuten später ging ein riesiger Elch mit dem wunderbar hochmütigen Ausdruck seiner Gattung gegenüber Menschen durch die Dämmerung. Es gibt viele Welten, die fast unerreichbar sind, sagte Lars, aber die, in der Elche über taunasse Wiesen gehen, liegt vor der Haustür. Man muß nur genau hinschauen!
Am 5. März durfte ich ihn aus Warschau anrufen mit der guten Nachricht, daß eine internationale Jury ihm den Zbigniew-Herbert-Preis verliehen habe. Wie glücklich er war, weil er für seine Poesie nie einen Preis erhalten hatte. Er hatte ja Zbigniew Herbert oft in der Jury des Petrarca Preises getroffen und wollte unbedingt von seinen Gesprächen mit ihm erzählen. Drei Wochen später die bange Frage, ob er unbedingt zur Preisverleihung in Warschau erscheinen müsse, am Sonntag die Nachricht von seinem Tod.
Sein letzter Roman Dr. Wassers Rezept beginnt mit dem Satz: »Ich bin gerade achtzig geworden. Ein Alter, das man offenbar ohne größere Probleme erreichen kann, wenn man mein Rezept befolgt.« Hätte Lars selber sich doch an das Rezept gehalten! In vier Wochen wäre er achtzig geworden! Die Behauptung, es gebe ein ewiges Leben -hat er einmal geschrieben -, ist sinnlos, um nicht zu sagen falsch. Gleichwohl aber meint sie ein Erlebnis, das es in der Welt gibt, als ein unmittelbares, elementares Erlebnis des unerschöpflichen Inhaltsreichtums, den jeder Augenblick unseres Lebens hat. Wir wissen, was Unendlichkeit bedeutet, genau wie wir wissen, was Tod bedeutet, und wir tun so, als wüssten wir es nicht - so als könnten wir auf diese Weise vermeiden, ein größeres Übel zu sehen.
Ach, wenn es doch nur so einfach wäre!
Michael Krüger