Wer Doris Schade kannte, wer sie als Schauspielerin auf der Bühne, im Fernsehen und im Film gesehen hat, weiß, daß es dabei nicht um private Befindlichkeit ging. Für Doris Schade war die Kunst die Möglichkeit, dem Leben spielerisch etwas entgegenzusetzen. Sie konnte im Spiel schrill, brutal, nervend sein. Eigenschaften, die nicht zu erwarten waren, wenn man ihr außerhalb des Theaters begegnete. Wie monströs eine Dame sein kann, war zu sehen in ihrer Frau Grollfeuer in der Uraufführung von Werner Schwabs Volksvernichtung oder meine Leber ist sinnlos (1991, inszeniert von Christian Stückl).
Sie vertrat die Personen, die sie spielte, indem sie ihnen Sprache, Körper und Raum gab. Sie engte sie nicht ein, maß sie nicht an sich und ihren Erwartungen, sondern zeigte sie in ihren Widersprüchen. Es ging darum, die Figur zu finden und zu erfinden. Personen, die nie nur aus Sprache und Körper, sondern immer auch aus Gefühlen bestanden. Wie stellt man Gefühle dar, ohne illustrativ oder gar gefühlig zu werden? Indem man ihnen den Raum gibt, den sie brauchen, sie ganz eigenständig neben die Aussage der Sprache und die Bewegung des Körpers stellt.
Zwei Erfahrungen Doris Schades kamen da zusammen: Die Erfahrung des Aufwachsens im Ausland, in Japan und der Sowjetunion bis zum fünften Lebensjahr (ihr Vater war Flugzeugkonstrukteur). Sie hat davon gesprochen, daß sie dadurch eine bleibende Distanz zur deutschen Sprache – und vielleicht zu Deutschland insgesamt – behielt. »Ich bin 23-mal umgezogen, da verliert man dieses Heimatgefühl. Am ehesten empfinde ich es wohl für Rußland, für Moskau, wo ich die ersten fünf Jahre meines Lebens verbracht habe.« Und dann die nicht nur für sie wesentliche Arbeit mit Fritz Kortner. Fast biblisch, wie ein Erweckungserlebnis, beschrieb Doris Schade, was sie durch Kortner erfuhr: »Er hat mich gelehrt mit dem Körper umzugehen, damit das Wort Fleisch wird. (...) Ja, das ist der richtige Ausdruck!«
Er hatte sie 1961 als Desdemona nach München an die Kammerspiele geholt. Rolf Boysen spielte Othello. Später sagte er: »Alles, was Othello an seiner Desdemona liebte – Schönheit, Wärme, Sanftmut, Stolz, etwas Halstarriges, Mitleid und Selbstbewußtsein – schien sich in Dir in wunderbarer Weise vereinigt zu haben.«
Doris Schade wurde am 21.5.1924 in Frankenhausen/Thüringen geboren, sie erhielt ihre Schauspielausbildung 1942-44 am Alten Theater in Leipzig, nach dem Debüt an den Städtischen Bühnen Osnabrück als Luise in Schillers Kabale und Liebe 1946, war sie in Bremen, Nürnberg, Frankfurt a. M., Stuttgart, Hamburg und München engagiert. Zu dem Ensemble der Münchner Kammerspiele gehörte sie von 1961-1972, von 1972-1977 war sie während Ivan Nagels Intendanz am Hamburger Schauspielhaus. 1977 kam sie zurück zu Dieter Dorn und Ernst Wendt an die Münchner Kammerspiele, denen sie treu blieb als »ihrem Haus« auch nach dem Umzug des Dorn-Ensembles in das Residenztheater. Wie treu und verbunden ihr dieses Ensemble war, zeigte sich bei der gemeinsamen Feier ihres 80. Geburtstags in den Münchner Kammerspielen.
Doris Schade verkörperte die Großen und die Kleinen, die Arkadia und Ranjéwskaja in Tschechows Stücken und die Frau in Amiwiesen von Kerstin Specht. In ihrem Spiel litten die Großen anders als die unten. Diese hatten bei ihr eine Widerständigkeit, eine Vorstellung davon, daß es anders sein könnte, ja eigentlich sein müßte. Als Maria in Dieter Dorns Was ihr wollt-Inszenierung siegte sie über alle, und sie wußte doch, daß sich für sie nichts änderte. Sie spielte ganz und gar die Lust an der Situation, die Gegenwart.
Die oben staunten in ihrer Darstellung darüber, daß Ihnen so etwas passieren konnte. Als Jokaste zeigte sie, daß diese Frau und Mutter des Oedipus alles erlebte, aber eigentlich nichts wirklich erfuhr; sie staunte.
Als ich ihr 1980 begegnete, sah ich sie bzw. habe sie innerhalb kurzer Zeit (1978-1982) in elf Rollen gesehen: als Jokaste (inszeniert von Ernst Wendt), als Maria in Was ihr wollt (inszeniert von Dieter Dorn), als Arkadina in der Möwe (inszeniert von Harald Clemen), als Elisabeth in Maria Stuart, als Gertrud in Hamlet, als Diamante in Pirandellos Die Riesen vom Berge, als Medea in der Medea von Hans Henny Jahn (inszeniert von Ernst Wendt), in Tankred Dorsts Merlin (inszeniert von Dieter Dorn), als Charis in Amphitryon, als Marthe in Edward Bonds Sommer (inszeniert von Luc Bondy), als Ranjewskaja im Kirschgarten (inszeniert von Ernst Wendt).
Diese Zeit war ein Umbruch und Neuanfang an den Münchner Kammerspielen, Doris Schade war daran beteiligt, sie arbeitete damals fast ausschließlich mit dessen Protagonisten Dorn und Wendt. Und das alles noch vor der Intendanz von Dieter Dorn, die für sie als Merteuil in Heiner Müllers Quartett begann. Es folgten Inszenierungen mit Thomas Langhoff, Peter Zadek, Volker Schlöndorff, Hans Lietzau, George Tabori, Christian Stückl, Jens Daniel Herzog, Martin Meltke, Anselm Weber, Lars-Ole Walberg und Franz Wittenbrink.
Sie war immer anders. Dies gilt ebenso für ihre Arbeit in Kinofilmen und im Fernsehen. Zwischen 1957 und 2009 spielte sie in viel mehr Filmen als man denkt, hauptsächlich für das Kino, aber auch das Fernsehen. Sie arbeitete intensiv mit Margarethe von Trotta (Clara Zetkin in Rosa Luxemburg,1986, Die bleierne Zeit 1981, Die Rosenstraße 2003), Faßbinder (Die Sehnsucht der Veronika Voss, 1982), Charlotte Link (Jenseits der Stille, 1996), zuletzt war sie die Großmutter in Vivian Naefes Die wilden Hühner.
Da Doris Schade nie einen Typus spielte, immer die Mittel suchte, die einer Figur entsprachen, läßt sie sich nicht festlegen. Sie stellte Menschen dar, fiktive Menschen, die in ihrem Spiel menschlich wurden. Und das war ihr wichtig, als Forderung und als Hoffnung: Gefühl ohne Gefühligkeit, Engagement ohne vordergründige Parteinahme. Ausdruck ihrer Ernsthaftigkeit und ihrer Verantwortung gegenüber dem Text, der Figur und sich selbst.
Doris Schade erhielt u. a. 1986 den Gertrud-Eysoldt-Ring für ihre Darstellung der Hekabe in den Troierinnen (inszeniert von George Tabori), 1999 den Maximiliansorden, 2002 die Auszeichnung München leuchtet und den Bayerischen Theaterpreis. Sie war seit 1987 Mitglied der Bayerischen Akademie der Schönen Künste.
Hans-Joachim Ruckhäberle