Anfang des Jahres 1994 schickte mir die Übersetzerin (und spätere Verlegerin von Les Murray) Margitt Lehbert eine Handvoll Gedichte eines australischen Dichters für die Zeitschrift Akzente. Ich war sofort elektrisiert, weil sie so anders klangen als alle anderen australischen Gedichte, die ich, mal hier, mal da, gelesen hatte, und ich erinnerte mich an eine Reise Ende der siebziger Jahre nach Australien, wo mir der Name Les Murray zum ersten Mal begegnet war.
Ich zeigte die Übersetzungen meinen Freunden vom Petrarca-Preis – Peter Hamm, Peter Handke, Alfred Kolleritsch und Hubert Burda –, und ein Jahr später, im Juni 1995, erhielt Les Murray den Preis in der Provence. In meiner Laudatio habe ich gesagt:
Ich erinnere mich gut, wie wir Ende der siebziger Jahre in Melbourne eintrafen: übermüdet nach einem zu langen Flug, mäßig neugierig, ausgetrocknet. Die Vorstellung, am nächsten Tag mit australischen Schriftstellern über Poesie reden zu sollen, war alles andere als verlockend. Wir hatten von dieser Literatur kaum etwas gelesen; zwei, drei Bücher von Patrick White, ein paar Gedichte von Peter Porter, der in London lebte und wenig Lust zeigte, nach Australien zurückzukehren, und einige Verse von Judith Wright, und wer sich gut vorbreitet hatte, wußte etwas von Carl Strehlows Forschungen über die »Aranda- und Livitja-Stämme in Zentral-Australien« aus den zwanziger Jahren oder kannte die »Songs of Central-Australia« des jüngeren Strehlow, eine Übersetzung, die 1970 vollständig erschien und heute zu den ganz großen Meisterwerken der Übersetzerkunst zählt: eine bewegende Mythologie, die mündlich weitergegeben wurde und den ganzen Kontinent belebte, der so abweisend unter uns gelegen hatte. Das war alles. Australien bestand aus einem rot schimmernden Berg, der auf einer flach ausgestreckten Wüstenhand lag, aus einem Opernhaus im Hafen von Sydney, das bereit schien, mit klappernden Flügeln sich in die Lüfte zu erheben, einer sonderbaren Fauna mit Pelztieren, die Eier legten, putzigen Bären, die auf Bäumen lebten, und Kängurus, die in ihrer Heimat das zeigen dürfen, was sie in europäischen zoologischen Gärten nicht zeigen konnten: meterlange Sprünge.
Australien war in der von ungesunden Vorurteilen genährten Vorstellung Europas immer noch der fünfte Kontinent, das fünfte Rad am Wagen: ein Land der Viehzüchter und der Wollhändler auf der untersten Ebene, der Tennisspieler und der Surfer auf einer mittleren. Oben war noch viel Platz, viel freier Raum, der erst in den letzten zwanzig Jahren besetzt wurde: mit Literatur, Film, Philosophie und dem späten Interesse an der fast ausgelöschten Kultur der Ureinwohner: eine dantesches Tableau. (…)
Auf einer Lichtung in einem Eukalyptuswald, umgeben von schwarzen Vögeln mit mächtigen Schnäbeln, die jeden Zuruf sofort imitieren konnten, las ich zum ersten Mal Gedichte von Les Murray. Ich hatte mir in der Stadt die Selected Poems gekauft, ein Taschenbuch, weil mir das Foto auf dem Umschlag so gut gefallen hatte, ein paar Farmhäuser in einer Graslandschaft unter einem knallblauen Himmel. Auf der Rückseite stand:
Les Murray was born in 1938 and grew up in the farming and forested country of New South Wales North Coast. Educated at several country schools and than at Sydney University, he went on to hold several jobs, notably as translatator of Western European Languages at the Australian National University, and as an Officer of the Prime Minister’s Department. He now writes poetry full time.
Wir waren mit dem Bus zu unserem Hotel gefahren, das mitten im Wald lag, an verschwiegenen Sägewerkdörfern vorbei. Die Menschen hatten kurz aufgeschaut, manche gewunken, als wären wir Gäste aus einer anderen Welt. Ein Gedicht in dem Buch hieß: »Durch Sägewerkdörfer fahrend«, und darin fanden sich die Verse:
Manchmal dreht sich ein Mädchen um, das vor der Haustür fegt,
oder eine unscheinbare Frau am aufgebockten Tank, die in einem Metalleimer
Wasser holt, und blickt
voll Verwunderung auf die Berge
und sucht eine Stadt.
Die Abende sind sehr still.
Rundum steht Wald.
Wenn die Nacht herunterkommt, beobachten die Häuser einander:
ein Licht, das in einem Fenster erlischt, bedeutet hier etwas.
…
In Sommernächten
Singen Bodengrillen und schweigen.
Im Dunkel des Winters rauschen Wellblechdächer mit dem Regen.
Fallrohre reiben sich im Winde wund, erglucksend vor Wasser.
Männer sitzen nach dem Essen
am Herd, während ihre Frauen reden, rollen ein Streichholz
Zwischen den Fingern
Und denken an die Zukunft.
Mit diesem Bändchen, das jetzt aus dem Leim geht, hat sich mein Bild von Australien verändert – oder vielleicht überhaupt erst gebildet. Die anderen australischen Dichter, die mit uns zusammen in dem abgelegenen Waldhotel die immer gleichen und entmutigenden Probleme der Lyrik in der technisch-wissenschaftlichen Welt diskutieren, die wachsende Marginalisierung und die sinkenden Auflagen, waren allesamt aus bekanntem Holz: gebildet, intelligent, belesen, freundlich. Einer schrieb ein gigantisches Versepos über den Dirigenten Sergiu Celibidache, der einmal in Sydney Bruckner und Brahms zur Aufführung gebracht hatte, eine andere short-stories in der amerikanischen Tradition, kurze, sehr bewegende Studien über das Verschwinden der Leidenschaft, eine dritter, besonders herzlicher kommunistischer Schriftsteller, der selbst an Stalin noch ein gutes Haar lassen wollte, erzählte jüdische Familiengeschichten aus dem Stetl, und die jüngeren waren, wenn sie sich nicht zu den beat-poets zählten, wie überall an post-strukturalistischen Texttheorien interessiert, die ihre Gedichte universal klingen ließen und gleichzeitig schwer verständlich machten.
Aber mittags, wenn Foucault und Barthes, Marx, Lacan und Celibidache sich mit den Dichtern schlafen gelegt hatten, ging ich zum meiner Lichtung mit den ununterbrochen vor sich hin sprechenden Vögeln, Laughing Jacks, wenn ich ihren Namen richtig erinnere, die wie besorgte Oberkellner durch Gras stelzten, und ließ mich von Les Murray in die, wie er schreibt, »Bekannte Fremdheit« Australiens einweihen:
Sonne und Mond bewegen sich hier gegen den Uhrzeigersinn, der Mann im Mond steht auf dem Kopf, die Milchstraße ist überdeutlich zu sehen und viele der Sternkonstellationen sind dem Norden unbekannt.
Und vor allen Dingen: es gibt im Süden des Landes nicht die vier Jahreszeiten, oder es gibt sie nur im Kopf. Murray bezeichnet die Einführung der Wahrnehmung der vier Jahresszeiten als den folgenreichsten Kulturimport, den sein Kontinent je erlebt hat. Und besonders die Dichter in seinem Land haben davon profitiert, wo die Bäume ganzjährig ihre Blätter behalten.
In den folgenden Jahren ist Les Murray, der freundliche, menschenfreundliche Dichter, fast jedes Jahr einmal nach Deutschland gekommen, um seine von Margitt Lehbert übersetzerisch und verlegerisch betreuten Bücher vorzustellen. Er war von beeindruckender Produktivität, und sein Versroman Freddy Neptune, eine bewegende Odyssee, ist in viele Sprachen übersetzt worden als leuchtendes Beispiel für die Möglichkeit eines narrativen Poems, das sich ganz bewußt in die Tradition der großen Epen stellte.
Mit seinem Gedicht »Dichtung und Religion« soll noch einmal an unser Mitglied Les Murray erinnert werden, der am 29. April 2019 in seiner Heimat verstarb:
DICHTUNG UND RELIGION
Religionen sind Gedichte. Sie bringen
unseren Tages- und Traumgeist in Einklang,
unsere Gefühle, Instinkte, den Atem und die uns angeborene Gestik
in das einzig vollkommene Denken: Dichtung.
Nichts ist gesagt, bis es in Worten hinausgeträumt ist
und nichts ist wahr, das nur in Worten wahr ist.
Ein Gedicht kann, verglichen mit einer geordneten Religion,
wie die kurze Hochzeitsnacht eines Soldaten sein
nach der man sterben und leben kann. Aber das ist eine kleine Religion.
Volle Religion ist das große Gedicht in liebevoller Wiederholung;
wie jedes Gedicht muß sie unerschöpflich und vollkommen sein
Mit Wendungen, wo wir fragen Warum hat der Dichter das wohl getan?
Man kann eine Lüge nicht beten, hat Huckleberry Finn gesagt;
Man kann sie auch nicht dichten. Es ist derselbe Spiegel:
Beweglich, aufblitzend nennen wir es Dichtung,
um eine Mitte verankert nennen wir es Religion,
und Gott ist die Dichtung, die in jeder Religion gefangen wird,
gefangen, nicht eingesperrt. Gefangen wie in einem Spiegel,
den er anzog, da er in der Welt ist, wie die Poesie
im Gedicht ist, ein Gesetz gegen jeden Abschluß.
Es wird immer Religion geben, solange es Dichtung gibt
Oder einen Mangel an ihr. Beide sind gegeben, und periodisch
Wie der Flug jener Vögel – Haubentaube, Rosellapapagei –
die so fliegen: die Flügel zu, dann schlagend und wieder zu.
Aus dem Englischen von Margitt Lehbert
Michael Krüger