Mehr und mehr Menschen leben in Städten, und die Statistiker meinen, um die Mitte des Jahrhunderts würde die Majorität der Erdbewohner in unüberschaubaren Agglomerationen hausen. Wahrscheinlich ist dann vergessen, was die Stadt für ihre Bürger einmal bedeutet hat. Längst vergessen die Deklaration des späten Mittelalters: Stadtluft macht frei. Freilich, auch aus der Antike kennen wir urbane Zusammenballungen. Rom, die Urbs aeterna, glich schon einer recht modernen Metropole, samt Vergnügungsstätten, Markthallen, Flaniermeilen und Slums. Mit dem Flanieren, wie es noch Walter Benjamin mit Zuneigung beschrieb, ist es so ziemlich vorbei. Auch das Flanieren ist in bestimmte Zonen eingewiesen. Wie ohnehin durch die Charta von Athen die Stadt diversiert und damit praktisch funktional zerstört wurde. Le Corbusiers Drittelung in Bereiche des Arbeitens, Schlafens und »Amüsierens« läutete das Ende der Heimatlichkeit der Stadt ein. Übrig geblieben ist ein Relikt: der Kiez. Heute unterwirft sich die Stadt ihre Siedler und macht sie trotz ihrer ungeheuren, nicht ganz geheuren Vielzahl zu Einsiedlern. So blicken wir zurück – mit leichter Melancholie und Nostalgie, wie wir das stets in Hinsicht auf unsere niemals aufhörenden Verluste tun. Günter Kunert
Günter Kunert (geb. 1929 in Berlin), Schriftsteller: aufgrund seiner jüdischen Abstammung wird ihm während des Dritten Reichs der Schulbesuch verwehrt, veröffentlicht 1947 erste Gedichte, seit 1948 SED-Mitglied, Förderung durch Johannes R. Becher und Bertolt Brecht, unterzeichnet 1977 als erster die Petition gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns, 1979 Umzug nach West-Deutschland, seit 2005 Vorstandspräsident des P.E.N. Zentrums deutschsprachiger Autoren im Ausland – Werke: u. a. Baum. Stein. Beton. Reisen zwischen Ober- und Unterwelt (1994), Nacht Vorstellung (1999).