In seinen späten Texten sucht Goethe die letzten Formeln, die knappsten Abbreviaturen dessen, worüber er ein Menschenleben lang nachgedacht hat. Die Kürze und Lakonie gibt diesen Kunstwerken eine oft ebenso bezaubernde wie trügerische Leichtigkeit. Diese Poetik der Reduktion, die sich (nach Goethes eigenem Ausdruck) mit einem »Wink« begnügt, wo andere ein Kapitel, eine ganze Szene, eine Strophe geschrieben hätten, verlangt vom Leser äußerste Aufmerksamkeit für jedes Detail und für den Beziehungsreichtum, den es womöglich eröffnet. Im Zentrum des Vortrags stehen die beiden Dornburger Gedichte von 1828 (Dem aufgehenden Vollmonde und Früh, wenn Tal, Gebirg und Garten). Diese berühmten Gedichte können, dies ist die leitende These, erst angemessen verstanden werden, wenn man sie im Zusammenhang einerseits mit der Farbenlehre und andererseits mit den Gedichten des West-östlichen Divan liest – und als letzte und dichteste Zusammenführung von lange entwickelten Gedankengängen. Denn erst in dieser Konstellation werden sie erkennbar als poetische Auseinandersetzungen mit einem Licht-Kult, der naturwissenschaftliche und religiöse Erfahrungsmöglichkeiten und Anschauungsformen zusammenbringt. Damit führen diese poetischen Experimente ins Zentrum von Goethes Alterswerk. Heinrich Detering