»Das einzige weibliche Genie aller Zeiten« war für Paul Verlaine eine französische Dichterin, die man bei uns kaum kennt: Marceline Desbordes-Valmore (1786-1859). Baudelaire rühmte ihre »Explosion der Leidenschaft«, Mallarmé pries ihre innovative Verskunst; Verehrung zollten ihr Louis Aragon und Yves Bonnefoy, im deutschen Sprachraum Rilke und Stefan Zweig. Dichterin der Liebe war sie zu allererst, Dichterin der rückhaltlosen Preisgabe des Selbst an die entgrenzende Macht des Eros. Lebenslang gezeichnet von den Erschütterungen einer frühen Liebesenttäuschung, fand sie Herztöne einer Unmittelbarkeit des Gefühlsausdrucks, die in der Lyrik ihrer Zeit nicht ihresgleichen hat, entwickelte aber auch ein feines Gespür für emotionale Ambivalenzen, für gebrochene Gemütszustände. Sie schuf sich dafür eine klangreiche Verssprache von hoher Geschmeidigkeit mit oft irregulären Strophenformen, die auf Verlaine vorausweisen. Die Liebe blieb freilich nicht ihr einziges Thema. Ihre Leidenschaft für den Menschen trieb sie auch zu politischen Gedichten von visionärer Kraft. Hans Krieger
Es fehlte an adäquaten Übersetzungen; außer vereinzelten Proben in Anthologien ist auf deutsch nichts von ihr greifbar. Der Lyriker Hans Krieger (jüngste Gedichtbände: Nachtflügel, Das Asphalt-Zebra, Apfelfall) hat Teile ihres Werkes übertragen: wie schon bei seiner vielgerühmten Verlaine-Übersetzung geht es ihm darum, die originale Klanggestalt zu lebendiger Wirkung zu bringen. In seinem Vortrag wird er vor allem die Dichterin selbst zu Wort kommen lassen.
Das Leben
Wolke, luftumwoben,
Wanderer im Licht,
wo die Wetter toben,
wo der Blitz zerbricht;
brütest Feuerschwelen
du in Schoß und Herz,
trägst du unsre Seelen,
führst sie sonnenwärts?
Nimm auch meine Seele
hin im Flug mit dir,
daß sie sich nicht quäle
ewiglich mit mir.
Endlich will sie lernen,
Erdenschmerzes satt,
daß sie nur bei fernen
Sternen Heimat hat.
Nimm denn – doch, was sag ich?
Staunen muß mein Sinn:
kaum gedacht, kaum klag ich,
bist du schon dahin,
seh ich in den Winden,
Wanderer des Lichts,
glühend dich entschwinden,
fortgeweht ins Nichts.
Marceline Desbordes-Valmore,
Übersetzung: Hans Krieger