Porträt oder Kunstwerk? Tizian malte 1568 den 77jährigen Papst Paul III. mit seinen ehrgeizigen Nepoten. Der Porträtierte versteckte das Bild im Keller. Was ihm mißfiel, begeistert uns heute: Genauigkeit, Klarsicht und Wahrhaftigkeit. Das Modell vom unersättlichen alten Herrscher, dessen List die Nachdrängenden gerade noch in Schach hält, hat den Modellgeber überlebt.
Das Leben ist nicht schmeichelhaft, deshalb fürchten wir unsere Porträts so sehr, wie wir sie ersehnen. Nur die Kunst muß nicht schmeicheln, deshalb kann sie mehr über das Leben erzählen als jeder Bericht, jede Eloge. Doch auch die Kunst bezieht ihre Modelle aus der Wirklichkeit. Das sorgt für Konflikte, seit es Kunst gibt.
Petra Morsbach wird anhand einiger jüngerer Fälle die Problematik beleuchten und Norbert Gstreins Roman Die ganze Wahrheit (2010) vorstellen. Dort geht es um eine exzentrische Schauspielerin, die einen älteren Verleger heiratet und ihm die Kontrolle über den Verlag und über sein Leben entwindet. Das fesselnde Porträt einer Soziopathin wurde vom Großteil der Presse scharf angegriffen, da man es als Schlüsselroman über eine Berliner Verlegerin las.
Norbert Gstrein, geboren 1961 in Tirol, studierter Mathematiker und Träger mehrerer Literaturpreise, gilt als »einer der intelligentesten, gegenwartsnächsten Schriftsteller deutscher Sprache« (Elmar Krekeler). Er wird aus seinem Roman vortragen und mit Petra Morsbach über Erfahrungen an der Schnittstelle zwischen Kunst und Leben diskutieren.