Als Horst Bienek zu Beginn des Jahres 1987, damals längst als Lyriker, Romancier und qualitätsbewußter Kulturmanager bekannt, an der Universität München Vorlesungen über Sprache und Exil heute hielt, hatte er die Diagnose »HIV positiv« noch nicht erhalten. Wenige Wochen nach der letzten Vorlesung erhielt er das Testergebnis und notierte am 20. März 1987 in sein Tagebuch: »Ja, ich habe schon einmal ein Todes-Urteil bekommen (1951)!« Zwischen zwei Todesurteilen sah er von nun an sein Leben eingespannt, zwischen den Spruch des Gerichts, das ihn 1952 zu 20 Jahren Zwangsarbeit im Archipel Gulag verurteilte, und die AIDS-Diagnose, die ihn vier Jahre vor seinem Tod erreichte. In der »Zeit danach«, nach Auschwitz, nach Hiroshima, nach dem Archipel Gulag, nach der Diagnose hat er geschrieben und in knapp 20 Jahren ein episches Werk geschaffen, das die Zeit überdauert hat. Auch wenn Bienek heute in Polen bekannter ist als in Deutschland, bleibt sein Versuch eines »lazarenischen« Schreibens, das heißt eines Schreibens, das dem Tod ins Auge schaut, eine Herausforderung an jede Art von Literatur zu jeder Zeit. Das Lesebuch, das er 1984 zusammengestellt hat, berichtet mehr von ihm als mancher lyrische und erzählende Text. Es enthält als Motto die letzten Worte Georg Büchners (»Wir haben der Schmerzen nicht zu viel …«), als Vorwort Fjodor Dostojewskis Brief über das gegen ihn (1849) verhängte Todesurteil und endet mit einem Epilog aus dem Cherubinischen Wandersmann des Angelus Silesius. Horst Bienek, der sich 1990 wünschte, nicht aus Gottes Hand zu fallen, suchte eine existentiell verbindliche Literatur, die über das Nur-Ästhetische hinausführte. So war er stets mehr als der »Epigone seiner Schmerzen«. W. Frühwald
2. Abend: 14. Mai 2013
3. Abend: 16. Mai 2013