Nichts ist mehr so, wie es zuvor war: Der Erste Weltkrieg markiert die vielleicht verstörendste Zäsur innerhalb der jüngeren Geschichte der Künste. Die Erfahrung des industrialisierten Krieges entzieht sich jeder Verstehbarkeit, die Künstler tasten nur »am Faden irgendeiner kleinen kurzatmigen Logik durch eine Traumlandschaft, die sie Wirklichkeit nennen und die ihnen doch nur Alpdruck ist« (Hermann Broch). Musik, die vielleicht unmittelbarste und vieldeutigste unter den Künsten, formt dabei ihre eigene »Traumlandschaft«: Auf die Komponisten wirken die Geräusche und Klänge technifizierter Schlachten und die nervösen Befindlichkeiten der Heimatfront. Musik soll der emotionalen Mobilmachung dienen und die Kampfmoral stärken; zugleich bietet sie Möglichkeiten zur Abkehr vom brutalen Alltag – um sich mit Trauer und Schrecken zu versöhnen. Beispielhaft stellt der Vortrag diese Vielschichtigkeit des Musiklebens nach 1914 in Wien vor: zwischen der Propagandamusik einer alternden Berühmtheit und den apokalyptischen Visionen eines jungen Avantgardisten, von atonalen Volksliedern Anton Weberns bis zu einer Antikriegs-Musik des kaisertreuen Franz Lehár. M. S.
Matthias Schmidt, geboren in Köln, studierte Musikwissenschaft, Germanistik und Kunstgeschichte in Bonn, Berlin und Wien. Neben der Arbeit an verschiedenen europäischen Hochschulen Tätigkeit als Musikjournalist, Ausstellungskurator und Konzertdramaturg. Forschungsschwerpunkte sind u. a. die Musik der Moderne und der Wiener Klassik. Seit 2007 ist er Professor für Neuere Musikgeschichte an der Universität Basel.