Noch vor dem Ersten Weltkrieg galt Czernowitz, die Hauptstadt des österreichischen Kronlandes Bukowina, als ein osteuropäisches jüdisches Paradies. Zahlenmäßig machten hier die Juden mehr als ein Drittel der gesamten Bevölkerung aus. Die meisten jüdischen Intellektuellen waren deutschassimiliert und bildeten somit ein reges geistiges Potenzial für deutsche Kultur.
Im Schoß dieser deutschsprachigen Kulturtradition etablierte sich hier nach der Auflösung der Monarchie, als die Bukowina schon an das königliche Rumänien fiel, eine Gruppe deutschjüdischer Literaten, deren Mentor Alfred Margul-Sperber war. Zu seinem nächsten Freundes- und Dichterkreis gehörten Alfred Kittner, Moses Rosenkranz, Rose Ausländer, David Goldfeld u. a., die hier, unter fortschreitender Romanisierung aller Sphären des politischen, wirtschaftlichen und geistigen Lebens, eine lyrische Tradition angelegt hatten, aus der auch noch die nächste Dichtergeneration emporsteigen konnte: Immanuel Weißglas, Alfred Gong, Paul Celan, Selma Meerbaum-Eisinger, Manfred Winkler, Ilana Shmueli. Diese beispiellose dichterische Intensität in der fatalen Inselsituation bedeutete hier aber auch das letzte Aufflammen der lyrischen Substanz in deutscher Sprache. Was nachher mit der Macht totalitärer Regime und dem Beginn des Zweiten Weltkriegs über den Dichtern dieses Landstrichs hereinbrach, läßt sich kaum in Worte fassen. Daher war der Exodus der Überlebenden unvermeidlich, und erst unter fremdem Himmel konnten diese Dichter ihre poetische Begabung völlig entfalten und ihre Namen in die neuere deutsche Literaturgeschichte hineinschreiben. P. R.
Petro Rychlo ist Professor für fremdsprachige Literatur an der nationalen Jurij-Fedkowicz-Universität Czernowitz/Cernivci (Ukraine) und Mitglied des ukrainischen PEN-Clubs. Er ist einer der Begründer des internationalen poetischen Festivals »Meridian Czernowitz«.