Seit ihrer Entstehung vor knapp 3000 Jahren schlägt die Odyssee Leser in den Bann. Doch die Odyssee ist nicht nur selbst eine glänzende Erzählung, sie enthält auch zahlreiche Erzählungen: Homer läßt seine Helden und ihre Barden immer wieder vom Kampf um Troja und der mühevollen Rückkehr nach Griechenland berichten. Odysseus erzählt selbst seine spektakulären Abenteuer am Hofe der Phaiaken. Auf Ithaka verbirgt er dann, von Athene in einen alten Bettler verwandelt, seine Identität hinter Lügengeschichten. In einer zauberhaften Szene am Ende des Epos schließlich hält die Morgenröte ihren Wagen an, damit Odysseus und Penelope ihre Erlebnisse der letzten zwanzig Jahre miteinander teilen können. Thomas Loibl wird ausgewählte Passagen aus diesen eingebetteten Geschichten vorlesen und Jonas Grethlein aus ihnen eine neue Deutung der Odyssee entwickeln. Die Odyssee, so der Grundgedanke, bietet uns eine tiefgründige Reflexion über das Erzählen, seine Formen und Funktionen. An den Binnenerzählungen zeigt sich, wie sehr Geschichten uns bewegen, aber auch verstören können. Homer führt uns nicht zuletzt vor Augen, wie wir im Erzählen Kontingenz bewältigen, Erfahrungen verarbeiten und Identitäten formen.
Die Odyssee ist keine Poetik. Ihre Reflexion über das Erzählen gewinnt gerade dadurch an Tiefe, daß sie nicht theoretisch, sondern Teil einer packenden Erzählung ist. Wenn die Odyssee uns heute noch fesselt, so liegt dies nicht nur an den Monstern und Nymphen, denen Odysseus begegnet, sondern auch an ihrer Einsicht, welche Bedeutung das Erzählen für unser Leben hat, heute wie in der Antike.
Jonas Grethlein, geboren 1978 in München, ist Altphilologe und lehrt an der Universität Heidelberg.