Die literarische Landschaft wird immer unübersichtlicher. Während die digitalen Medien den Bedeutungsverlust von Literatur beschleunigen, überschlägt sich das Buchgeschäft mit Neuerscheinungen. Je weniger Romane massenhaft gelesen werden, desto massenhafter kommen sie auf den Markt. Schriftsteller und Literaturkritiker sind von diesen Entwicklungen gleichermaßen betroffen.
So wie die Literaturwissenschaft sich in den letzten Jahrzehnten in eine diskurskritische Kulturwissenschaft verwandelt hat, die Romane als Veranschaulichungsmaterial für postkoloniale Studien und Gender-Debatten benutzt, so hat auch die Literaturkritik ihr angestammtes Terrain ins Generelle ausgeweitet. Obwohl es im Feuilleton nach wie vor herkömmliche Buchbesprechungen gibt, versteht es sich zunehmend als erweiterte Stimme des Politik- und Wirtschaftsressorts. Die Bedeutung von Literatur steigt dabei mit ihrer zeitdiagnostischen Relevanz. Der Stoff wird wichtiger als der Stil, der politische Hintergrund wichtiger als das poetische Element, das Thematische wichtiger als das Dichterische. Zwar läßt Kunst sich vom Gesellschaftlichen nie trennen, doch es ist ein Unterschied, ob man Romane als kulturelle Wortmeldungen wahrnimmt oder als ästhetische Gebilde. Angesichts des immer enger werdenden Markts stellt sich für Autoren die Frage, ob sie die Gunst der politischen Stunde nutzen und ihr Werk nach aktuellen Themen ausrichten, oder ob sie einer anderen Vision von Literatur nachhängen. Literaturkritiker wiederum stehen vor der Frage, welche Kriterien sie noch leiten und mit welchen Mitteln sie im medialen Wirbel bestehen wollen: mit klassischen Rezensionen oder Homestories, mit Entertainment oder kunstsinnigen Reflexionen? K.-H. O.