Vor zweihundert Jahren ist zum ersten Mal Goethes umfangreichster lyrischer Zyklus West-östlicher Divan erschienen. »West-östlich« hat er ihn genannt, da er ihn als eine Art westlicher ,Kontrafaktur‘ zur östlichen, altpersischen Dichtung, besonders zum Divan des Hafis verstanden wissen wollte. »Meine Absicht ist«, so schreibt Goethe am 16. Mai 1815 an Cotta, »auf heitere Weise den Westen und Osten, das Vergangene und Gegenwärtige, das Persische und Deutsche zu verknüpfen und beiderseitige Sitten und Denkarten übereinandergreifen zu lassen.« In den »Noten und Abhandlungen«, die er dem Divan »zu besserem Verständnis« beigegeben hat, bezeichnet Goethe den spezifischen Charakter der orientalischen Poesie durch das, »was wir Deutsche ,Geist‘ nennen«. Geist aber besteht für ihn in »Übersicht des Weltwesens, Ironie, freiem Gebrauch der Talente«. Übersicht des Weltwesens: sie gibt sich kund im Wechsel der Themen und Töne vom Alltäglichen bis zum Kosmischen, vom Scherz bis zum höchsten Pathos, vom intimen Liebesgespräch bis zur Welthaltigkeit des historisch-politischen Ereignisses, vom Weinrausch bis zur mystischen Ekstase, vom Irdischen zum Himmlischen. Vor allem ist der Divan große Liebesdichtung, gipfelnd im Buch Suleika, das die ganze Skala der Töne erotischer Lyrik vom anakreontisch-scherzhaften bis zum mystisch-ergriffenen durchspielt, gipfelnd in der kosmischen Liebessymbolik des Gedichts Wiederfinden. In unserer abendlichen Dialog-Lesung soll dieser zentrale thematische Bereich des Divan zu Gehör gebracht werden. Dieter Borchmeyer