Sub omni canone, unsere redensartlich böse Bewertung, etwas sei »unter aller Kanone«, meinte ursprünglich einen außerhalb der Norm stehenden Regelbruch. 1200 Jahre alte Gesichter, die uns unverwandt aus gemalten Steinsäulen wie Elvis Presley mit Pomadentolle anstarren, oder auch quicklebendige Nackte in den an Christi Himmelfahrt 2023 von der UNESCO zum Weltdokumentenerbe erklärten karolingischen Handschriften dürfen sicher zu solchen »e-normen« Kunstäußerungen zählen. Tatsächlich gibt es bei diesen Auswüchsen der Phantasie eine doppelte Interaktion zwischen Imagination und Realität, zwischen den materialiter existierenden antiken Säulen des 2. nachchristlichen Jahrhunderts in der Basilika Alt-St. Peter und ihren gemalten Gegenstücken auf den Canones, den Kanontafeln mittelalterlicher Prachthandschriften. In der Buchmalerei sind Freiheiten und Phantasien möglich, die kaum gebaut oder gemeißelt werden können. Das Beispiel weiterer Säulen des Mittelalters legt nahe, dass die Buchminiaturen eine anregende und wechselseitige Wirkung auf die monumentale Bildhauerei hatten. Der Vortrag untersucht, ob es bei den von Künstlern in den Kanontafeln dargestellten lebendigen Steinen nicht nur das Schwarz-Weiß von »antik-heidnisch« versus »christlich« gab, sondern auch äußerst ambivalente Verhältnisse und Mischformen. Die bisherige künstliche Grenze zwischen einer »wissenden« Antike und dem vermeintlich unaufgeklärt finsteren Mittelalter ist hinfällig. Da in den letzten Jahren Konzepte belebter Materie in der Kunst zunehmend stärker wurden, will der Beitrag am Ende eine mögliche longue durée dieser Ideen bis in unsere Tage diskutieren. S. T.
Stefan Trinks studierte Kunstgeschichte, Geschichte sowie Klassische und Mittelalterliche Archäologie in Bamberg und Berlin. Seit 2017 leitet er das Kunstressort der F.A.Z., zuletzt vertrat er die Professur für Spätantike und Mittelalter an der TU Dresden.
Der Eintritt zu der Veranstaltung ist frei, eine Anmeldung nicht erforderlich. Bitte haben Sie dafür Verständnis, daß unser Platzangebot begrenzt ist. Daher werden eine Stunde vor Beginn der Veranstaltung am Haupteingang der Residenz Platzkarten vergeben.