Es ist den beiden Künstlern Wolfram Kastner und Michael Wladarsch zu verdanken, dass mit der von ihnen konzipierten Aktion, weiße Fahnen aufzuhängen, im öffentlichen Raum Münchens überhaupt an das Ende des Nationalsozialismus erinnert wurde.
Weiße Fahnen werden üblicherweise als Zeichen der Kapitulation gehängt, sie können somit an das Ende der nationalsozialistischen Herrschaft in München erinnern, als am 30. April 1945 amerikanische Truppen das Rathaus besetzten. Weiße Fahnen können aber auch auf die Befreiung vom Nationalsozialismus verweisen. Befreit werden können aber nur Opfer des Systems, die große Mehrheit der Deutschen war während des Nationalsozialismus Mittäter oder zumindest Zuschauer – so die Unterscheidung des großen Holocaustforschers Raul Hilberg. Befreit wurden am 28. April 1945 die Insassen des KZ Dachau, befreit wurden Hunderttausende von Zwangsarbeitern und Kriegsgefangenen, die in München schuften mussten, befreit wurden politische Häftlinge und befreit wurden Künstler, Literaten und Journalisten vom Zwang nazistischer Vorschriften. Nicht befreit wurden Homosexuelle, für die der von den Nazis verschärfte Paragraph 175 weiter galt, nicht befreit wurden Sinti und Roma, sogenannte Zigeuner, die weiter nach einer „Zigeunerkartei“ in den Polizeipräsidien verfolgt wurden.
Schon mit Kriegsende begann der Prozess der Selbstviktimisierung, alle bezeichneten sich als Opfer, denn sie hatten doch Wohnungen und Familienangehörige verloren. Die Mittäter reihten sich ein in den Kreis der wirklichen Opfer. Wenn überhaupt der NS-Zeit mit Denkmälern gedacht wurde, dann lautete die – auch in München verwendete Formel – „den Opfern des Nationalsozialismus“. Wie viel geistige „Befreiung“ in den Köpfen der Mehrheit der Deutschen stattfand, soll an dieser Stelle nicht weiter ausgeführt werden, ein Blick in Umfragen belegt eher, dass sich erst in einem mühsamen Prozess demokratischer Erziehung auf der Basis des Grundgesetzes und eines zweimaligen Generationenwechsels das Verhältnis zum Nationalsozialismus immer stärker distanzierte. Dass sich in jüngster Zeit diese Entwicklung veränderte und die NS-Verbrechenszeit als „Vogelschiss in der deutschen Geschichte“ marginalisiert wird, ist ein bedrohlicher Vorgang.
Die Bayerische Akademie der Schönen Künste hat eine weiße Fahne am Eingang zu ihren Räumen aufgestellt, um ein Zeichen zu setzen, dass die Befreiung der Künste durch die Besetzung Münchens Grundlage ihrer Arbeit als „oberste Pflegestätte der Kunst“ ist.
Winfried Nerdinger