Auch Preisträgerinnen können Preise vergeben. Den „coolsten Namen aller Kompositionspreise“ bescheinigt die soeben geehrte Liza Lim dem „Happy New Ears“-Preis der Hans und Gertrud Zender-Stiftung. Da ist ganz offensichtlich etwas dran, erschließt sich doch instantan das Wortspiel mit der Wunschformel „Happy New Year“ und führt, je nach Rezeptionslaune, möglicherweise zu weiteren lustigen Assoziationen. Der Name des renommierten Preises hat jedoch einen seriösen Hintergrund, woran Winfried Nerdinger, der Präsident der Bayerischen Akademie der Schönen Künste, erinnert, in deren Räumen die Verleihung stattfindet. Es war John Cage gewesen, der den Slogan regelmäßig zum Abschluss seiner studentischen Workshops verwendete, was schon allein deshalb bemerkenswert ist, weil der dem Zufall und der Absichtslosigkeit zugeneigte Komponist mit der Wunschformel eine greifbare Absicht, eine Art Programmatik äußerte: das Bekenntnis zu „vorurteilsfreiem Hören“.
Die Debatte darum, ob es soetwas überhaupt geben könne oder ob hörendes Bewusstsein nicht immer schon mit Kategorien und somit Urteilen operiert, so, wie es ja auch vor jeder Bewusstwerdung bereits sprachlich geprägt ist, ist noch nicht abgeschlossen. In seinem Essay „Happy New Ears!“ von 1964 hatte Cage denn auch für den Rezeptionsakt keine absolute Freiheit von jeglichen subjektiven Einstellungen gefordert, sondern spezifisch die Zurückweisung westlicher Konzepte wie etwa das einer „linearen Klimax“, ferner herkömmlich bindender Harmonik sowie des Reduzierens von Klängen auf präfixierte Beziehungen. Das meinte für den Cage der 1960er Jahre dezidiert nicht die Aufgabe jeglicher Referentialität von Musik im Sinne einer wiederum absoluten Selbstbezüglichkeit, etwa durch eine Neuauflage des modernen „L´art pour l´art“-Gedanken. Beeinflusst von dem indischen Kunstkritiker Ananda K. Coomaraswamy, bindet Cage die Entwicklungen und Veränderungen der Musik an diejenigen der Naturwissenschaften an, wobei er soweit geht, hier ein Kausalverhältnis zu konstatieren: „Kunst ändert sich, weil die Wissenschaft sich ändert – das bedeutet, die Veränderungen in der Wissenschaft eröffnen Künstlern unterschiedliche Verständnisse darüber, wie die Natur arbeitet“. Es sei „die Funktion der Kunst, die Natur in ihrer Operationsweise zu imitieren“. Die Nennung eines der ältesten Topoi der Ästhetik überhaupt, der antiken Mimesis-Theorie, dürfte hier durchaus provokativ gemeint sein, wird aber von Cage auch eingeschränkt: Nicht soll gleichsam naiv die Natur an sich nachgeahmt werden, wie es noch der Neo-Aristotelismus des 18. Jahrhunderts proklamierte, sondern vielmehr, auf einem höheren Abstraktionsniveau, ihre Art und Weise zu prozessieren. Diese aufzudecken sei eben Aufgabe des Fortschritts der Wissenschaft (eigene Übersetzungen, zitiert nach: David Ingram, „´The clutter of the unkempt forest´: John Cage, Music and American Environmental Thought“, in: Amerikastudien/American Studies 2006 [51/4], S. 566-579).
Für John Cage war etwa der Begriff der „Raum-Zeit“ eine der entscheidenden Anregungen, welche die Musik aus der Wissenschaft, konkret einer philosophisch fundierten theoretischen Physik, entlehnen konnte. Schlüsselt man die Bedeutung des „Happy New Ears“-Slogans in dieser Weise ein bisschen weiter auf, wird deutlich, wie gut der Preisträger für Publizistik zur Neuen Musik des Jahres 2021 (die Verschiebung der Verleihung auf das laufende Jahr geschah pandemiebedingt) sowohl zum Namen wie zum Gründer passt. „Über die Mehrschichtigkeit der Zeiterfahrung in der seriellen und postseriellen Musik“ (2019), „Sicherheit und Risiko. Zu einer dialektischen Figur des Komponierens im 20. Jahrhunderts“ (2021) oder „Convergence between West and East in 20th century music. Reflections on some crucial aspects“ (2010) lauten nur drei Titel von gut 125 Aufsätzen, die der italienische Musikwissenschaftler Gianmario Borio in den letzten vierzig Jahren veröffentlicht hat. Borio, Jahrgang 1956, Professor an der Universität Pavia, Direktor des Istituto per la Musica, Fondazione Giorgi Cini, Venedig, habe in seinem Werk den lange grassierenden „Eurozentrismus“ überwunden, sich dabei aber immer noch einen „Blick auf das Ganze“ bewahrt. So fasst es Wolfgang Rathert, Professor für Musikwissenschaft an der LMU München, in seiner Laudatio. Borio selbst hebt in seiner kurzen Dankesrede hervor, wie stark er seinerseits von der Person und dem Werk Hans Zenders beeindruckt und geprägt wurde, etwa in Bezug auf grundlegende Problemfelder wie musikalische Schrift, Zeiterfahrung und das Verhältnis der sogenannten westlichen zur außereuropäischen Kultur.
Es wäre interessant gewesen, zu hören, was sich Gianmario Borio und Liza Lim zu sagen haben, da sie aus musikologischer wie kompositorischer Perspektive viele Interessen teilen. Zudem sind im Werk der 1966 im australischen Perth geborenen Komponistin Lim wissenschaftliche und schöpferische Anteile bisweilen kaum zu trennen. Wie Rathert in seiner Laudatio betont, hat Lim etwa über die Musik der Aborigines geforscht, als Kind chinesischer Eltern ein vitales Interesse an fernöstlichen Instrumenten entwickelt und ihr Arbeiten überhaupt in den übergreifenden Horizont von „Weltmusik“ gestellt, oder, wie man es präziser ausdrücken könnte, in den der „Kunst in der globalisierten Welt“. Dabei sei aber ein Begriff wie „Exotismus“ ungeeignet, so Rathert, die „Dialektik von Emphase und Distanz“ zu beschreiben, die Liza Lim in ihren Arbeiten zwischen europäischer Kunstmusik und externen Traditionen ausbildet.
Ein gutes Beispiel ist das an diesem Abend vorgestellte Stück „Wild Winged-One“ für Trompete solo von 2007. Der Solist beginnt ohne Mundstück und benutzt das Instrument somit gewissermaßen in einer Art vorgestellter Urform für quietschende und insektenhaft summende, fremde Gesänge. Nachdem das Mundstück eingesetzt wurde, wechselt der Monolog zwischen bekannten Effekten wie dem Spiel mit halbgedrückten Ventilen und durch den Stimmzug hergestellte Mikroglissandi einerseits und andererseits dem Spiel in überlieferten Intervallen. Matthew Sadler ist der richtige Trompeter für dieses Schwanken: Er führt die Effekte eindrucksvoll aus, hat aber auch den schönen und expressiven Ton für die konventionellen Passagen, in denen vor allem seine phänomenale Höhe besticht.
Zwei Fragen stellen sich: Ist es kompositorisch gewollt, dass sich zwischen den beiden Sphären keine Übergänge herstellen? Bei einem so meisterhaften, klassisch ausgebildeten Trompeter wie Sadler ist die Kluft zwischen Geräusch und edlem Ton unüberbrückbar. Und: Liegt dem Stück eine Form zugrunde, die über die grobe Gliederung in einen Prolog und einen Epilog ohne Mundstück und einen langen, „normal“ geblasenen und improvisatorisch anmutenden Mittelteil hinausgeht? Für die Beantwortung solcher Fragen könnte neben der Komponistin auch der Musikwissenschaftler zuständig sein – oder eine Hörerschaft, die neben der Offenheit der „neuen Ohren“ auch ein ganz allgemeines, herkömmliches und kritisches Bewusstsein mitbringt.
PD Dr. Michael Bastian Weiß