Noch zwei Wochen wird Hilda Paredes Artist in Residence in München sein, beherbergt vom Meta Theater im Künstlerhaus Villa Waldberta. Den Verantwortlichen ist ein veritabler Coup damit gelungen, die mexikanisch-britische Komponistin für einen längeren Arbeitsaufenthalt ins Land zu holen. Hilda Paredes, Jahrgang 1957, ist heute eine der international führenden kompositorischen Stimmen überhaupt. Seit über 40 Jahren lebt sie in England, hat aber ihre Beziehungsbande zu Südamerika nie abreißen lassen; in Europa hat 2018 ihre in Amsterdam uraufgeführte Kammeroper „Harriet“ Furore gemacht.
Die Podiumsdiskussion, welche die Bayerische Akademie der Schönen Künste gewissermaßen zu Ehren Hilda Paredes' veranstaltete, gab in Form von höchst eindrucksvollen Videoausschnitten Einblicke in ihr Schaffen und fungierte somit als „Teaser“, als aufwendige appetitweckende Ankündigung des Porträtkonzerts nächste Woche, in welchem, moderiert vom Dirigenten und Autor Peter Hirsch, wichtige Werke aus dem Instrumentalwerk der Komponistin vorgestellt werden. Spielen wird das legendäre Arditti Quartet, von dem hier gleichsam authentische Interpretationen zu erwarten sind, nicht nur angesichts der einzigartigen Expertise des Ensembles für Neue Musik: Der namengebende Primarius ist über dies hinaus mit der Komponistin verheiratet (Mittwoch, 29. März, 19 Uhr in der Bayerischen Akademie der Schönen Künste).
Interessant wird sein zu hören, wie sich die explizit gesellschaftliche Orientierung und Einbettung von Paredes' Komponieren im Medium wortloser Musik ausdrückt. Sie selbst bezeichnet diese Perspektive auf Englisch als „humanitarian“, was im Deutschen mit dem geläufigen „humanitär“ wiedergegeben werden kann, aber auch eine human-ethische wie kulturelle Dimension mitschwingen lässt, die man klassischerweise auch „humanistisch“ nennen würde. Ohne zuviel hineinlesen zu wollen, vermeidet Hilda Paredes in diesen Selbstbeschreibungen das Label „Postkolonialismus“, eine transdisziplinäre Diskursströmung, die hierzulande nie auf vergleichbare Weise in den Fokus rückte wie etwa im englischen Sprachraum. Wichtiger ist, dass sie diese zentrale Perspektive ihres nicht nur kompositorischen Denkens als „extramusical“ reflektiert, als „außermusikalisch“, wenngleich dies keineswegs in einem exkludierenden Sinn verstanden werden darf.
Denn in Hilda Paredes' Oper „Harriet“ – Ausschnitte aus der Amsterdamer Produktion kann man auf den einschlägigen Video-Plattformen finden – ist der Einsatz von Musik ähnlich motiviert und begründet wie in Monteverdis „Orfeo“. Es sind Spirituals, die Lieder der US-amerikanischen Sklaven, die auf der Handlungsebene des Stücks als akustische, aber wortlose „Codes“ fungieren und eingesetzt werden, um Flüchtende vor ihren Häschern zu warnen. Dieses genuin musiktheatralisch anmutende Moment ist wohlgemerkt der Realgeschichte entnommen: Der Stoff der Oper geht auf Harriet Tubman zurück (geboren um 1820, gestorben 1913), einer Afroamerikanerin, die, selbst der Sklaverei entkommen, für unzählige Leidensgenossinnen- und genossen zur Fluchthelferin wurde. Themen, die das Schaffen von Hilda Paredes vielschichtig durchziehen: die Frage der Geschlechtergerechtigkeit, der Kampf gegen Rassismus und Imperialismus, die Sichtbarmachung politischer und ökonomischer Unterdrückungsstrukturen, schießen in „Harriet“ exemplarisch zusammen. Als „extramusikalisch“ treten sie, soweit man anhand der zugänglichen Ausschnitte urteilen kann, aber in eine wechselseitige und genuine Beziehung zur Musik.
Das ist weniger selbstverständlich als es klingt. Längst hat der Begriff „Musiktheater“ seine Verbindlichkeit verloren. Die archetypische Konstellation: Eine Komponistin oder ein Komponist verfasst ein Werk, in welchem Musik und Sprache in einen Wettstreit treten, den im Zweifel die Musik gewinnt, ist nicht nur als „alteuropäisch“ relativiert (Niklas Luhmann) und „logozentristisch“ desavouiert (Jacques Derrida), sondern vielerorts zugunsten einer als kollektiv und ahierarchisch bestimmten Auktorialität vollständig aufgelöst worden. Doch welche Funktion und Relevanz kommen der Musik nach einem solchen Paradigmenwechsel zu? Was ist noch musikalisch am Musiktheater, wenn weder Komponistin/Komponist noch diese einzelne Kunst selbst das Primat beanspruchen dürfen? Diese Frage kristallisierte sich als Grundproblem der Podiumsdiskussion „Neues Musiktheater – wohin?“ heraus, zu deren Beginn Hilda Paredes betonte, dass Komponieren für sie wesentlich im Austausch mit der Regie und nicht zuletzt denjenigen Impulsen bestehe, die von den involvierten Musikerinnen und Musikern eingebracht werden, also ihre Auktorialität und entsprechend ihr Werkbegriff als kollektiv zu verstehen seien. Ähnlich charakterisierte die Komponistin Brigitta Muntendorf ihre Arbeitsweise, verwies aber darauf, dass im Gegensatz zu Hilda Paredes für sie der Einsatz von Technik nicht nur instrumentelle Funktion im Sinne eines Werkzeugs hätte, sondern eine für sich selbst stehende Erfahrung, was nicht ausschließt, dass der technologische Anteil am Werk dazu tendieren könne, unsichtbar zu werden.
Eine Differenz in der Evaluierung des Musik-Anteils im Musiktheater schien kurz im freundlichen Wortwechsel zwischen dem Regisseur und Musikwissenschaftler Matthias Rebstock und dem Komponisten und Performancekünstler Manos Tsangaris auf. Während Rebstock im Sinne einer Minimaldefinition vorschlug, dem Musiktheater „eine dominante Rolle der Musik“ zuzubilligen, ging das Tsangaris schon zu weit: Um die Gefahren einer konzeptuellen Verengung und Störung des dezentralen Verhältnisses der Künste zueinander zu vermeiden, solle besser von „kompositorischem Denken“ gesprochen werden, das etwa auch in einer reinen Lichtinstallation zu finden sei; auf eine Rückfrage des Autors dieser Zeilen verdeutlichte Tsangaris, dass auch für ihn der Musikbegriff keineswegs beliebig dehnbar sei und das Beispiel der Lichtinstallation nicht unbedingt repräsentativ. Die Differenz zu Rebstock erwies sich somit letztlich als akzidentell.
Dass man von einer Podiumsdiskussion nicht erwarten kann, dass an ihrem Ende ein belastbarer Begriff „Neuen Musiktheaters“ entspringt, ist banal. Umso überraschender ist die weitgehende Einigkeit, die in der Runde dann doch über die Relativierung der Musik im Musiktheater und ihre depotenzierende Einordnung in das Gefüge der anderen Künste herrschte. In gewisser Weise widersprach diese Einschätzung der wesentlichen Rolle der Musik in den vorgestellten Beispielen aus dem Schaffen Hilda Paredes', die im Verlauf der Diskussion trotz der ausgleichenden Gesprächsleitung durch den Architekten und Regisseur Axel Tangerding etwas in den Hintergrund geriet. Vielleicht hatte der Umweg, dem eigentlichen Austausch umfangreiche Vorstellungen der Projekte aller übrigen Diskutierenden voranzustellen, eine etwas zu stark ablenkende Wirkung. Ein Grund mehr, das Hilda Paredes allein gewidmete Porträtkonzert nächste Woche zu besuchen.
Michael Bastian Weiß