Komponisten neigen nicht selten zum Aberglauben. Vielleicht kommt das daher, dass sie in ihrem Arbeiten unerklärliche Erfahrungen und Entdeckungen machen können, etwa spektakuläre Koinzidenzen oder Grund-Folge-Beziehungen, von denen man dann schlicht nicht glauben mag, dass es sich um Zufall handelt (mit David Hume könnte man, leicht pointiert, die Kausalität selbst als Aberglauben bezeichnen). Wilfried Hiller wird von der Moderatorin Ursula Adamski-Störmer (Bayerischer Rundfunk) als jemand vorgestellt, der Freude hat an wunderbaren Phänomenen; und die für ihn natürlich auch einen Sinn haben.
Vielleicht passiert auch in diesem Porträtkonzert des 1941 geborenen Komponisten in der Bayerischen Akademie der Schönen Künste etwas Bemerkenswertes: Während ein Klavierstück mit dem Titel „Spaziergang im Regen“ ertönt, peitscht der Wind das Wasser an die Fensterscheiben der Akademie; und während die wunderbare Pianistin Tanja Huppert, gebürtig in Kiew, das „Ukrainische Lied“ aus derselben Sammlung „Briefe aus der Einsamkeit“ spielt, weht die Fahne des Landes, dem Putin-Russland so unvorstellbare und schändliche Gewalt antut, auf der benachbarten Staatsoper im Sturm besonders heftig.
Ob man nun an eine tiefere Bedeutung solcher Erfahrungen glaubt oder Koinzidenzen als Kontingenz akzeptiert: Gleich bleibt doch, dass komponierendes und hörendes Bewusstsein nach Sinn suchen, nur von scheinbar opponierenden Polen aus. Am Ende dieses reichhaltigen Abends mit insgesamt sechs Werken (oder Ausschnitten daraus) kann man den generellen Eindruck festhalten, dass Wilfried Hiller über ein ganzes Komponistenleben hinweg nach Sinn sucht, Sinnhaftigkeit zunächst, aber vielleicht auch einem Sinn des Lebens. Wie könnte man sonst ein so beeindruckendes Projekt erklären wie das „Buch der Sterne“: Über 44 Jahre seines schöpferischen Lebens hat Hiller Klavierstücke über jeden der 88 Töne des modernen Klaviers geschrieben. Wie viele unter den heutigen Komponistinnen und Komponisten und denjenigen der jüngeren Vergangenheit verfügen oder verfügten über einen solchen langen Atem?
Wie wenige andere zeitgenössische Komponisten achtet Hiller aber nicht nur auf den Sinn selbst, sondern auch auf dessen Vermittlung. Beispiel „Buch der Sterne“: Die Harmonien, die sich in „Argo“ bilden, sind nicht nur akut ausgehört, klingen gut, haben Sinn, sondern werden auch wiederholt; einzelne Töne setzen sich fest, in „Ursa Maior“ ein zunehmend dringlicher werdender Orgelpunkt, nachvollziehbare Entwicklungen und greifbare Kontraste stellen dem hörenden Bewusstsein Anhaltspunkte bereit und schaffen somit Orientierung. Die in diesem Programm uraufgeführten „Briefe aus der Einsamkeit“ beziehen sich konkret auf die Biographie Wilfried Hillers: Auslöser zum Beginn dieser Sammlung war die Entdeckung eines Koffers mit Briefen, die der Vater aus Russland an die Mutter zu Hause geschrieben hat. Wenn der Eindruck nicht täuscht, wird Hiller in diesen Stücken, die im Titel auch mehrfach auf Werke der mit ihm befreundeten Malerin und Bildhauerin Antje Tesche-Mentzen Bezug nehmen, noch zugänglicher. Mixturen gemahnen an Olivier Messiaen, Tonwiederholungen werden melodisch aufgeladen wie in den Verzierungen Claudio Monteverdis, unverfremdet tonale Akkorde liegen nahe, können erscheinen, ohne eigens legitimiert zu werden. Tanja Huppert spielt sowohl die Auswahl aus dem „Buch der Sterne“ als auch die Uraufführung der „Briefe“ mit untrüglichem Gespür für die Vielfalt der benutzten Elemente, einem begeisternden Reichtum an Farben und Anschlagsmodifikationen und nicht zuletzt mit einer wohltuenden Ruhe, die auch das Reflektieren dieser Stücke darstellt – all dies, wohlgemerkt, während ihr der Komponist höchstselbst im Rücken sitzt, als luxuriöser Umblätterer.
Bildhafte Momente spielen in Wilfried Hillers Werk durchgehend eine Rolle. In den vier ausgewählten Stücken aus der Sammlung „Vernissage“ für Violine solo, deren Titel auf Skulpturen wiederum von Antje Tesche-Mentzen referieren, manifestieren sich diese jedoch weniger als erkennbare Tonmalerei, sondern als Gegenständlichkeit überhaupt: In „Der Goggolori“ ist das violinistisches Etüdenwerk, in „Die große Blüte“ eine Art gezupfter Bordun, in „Schulamit“ eine große Melodie, die sich mit kleinen Störungen und Ablenkungen immer wieder selbst unterbricht. Diese Mehrstimmigkeit im Monolog verkörpert die Violinistin Franziska Strohmayr nicht nur dadurch, dass sie alle diese Ereignisse mit einer fulminanten Bandbreite von Strich- und Zupfarten anschaulich auseinanderhält, sondern dass sie eben auch ihre Sinnhaftigkeit herstellt, in dem sie die Bezüge in ihrem gestischen Spiel vernehmbar macht und mit ihrem schönen Ton vereint.
Die Neigung zur Gegenständlichkeit zeigt sich bei Wilfried Hiller auch darin, dass er zeit seines Lebens die Zusammenarbeit mit Autoren und Künstlern gesucht hat, wohl auch, um zu entdecken, wie Literatur, Malerei und Plastik Sinnhaftigkeit zu produzieren. So singt die Sopranistin Anna-Lena Elbert furios das „Duett für einen Sopran“ aus der Kantate „Camilles Schwester“ nach einem Text von Stefan Ark Nitsche; Sprache und Musik stacheln sich gegenseitig zu geradezu wollüstigen Rachephantasien an, die Stimme von Anna-Lena Elbert kennt weder in der Höhe noch in der Beweglichkeit irgendwelche Beschränkungen. Wenn man einen Tipp abgeben müsste, in welchem der Stücke dieses Abends der Komponist am nächsten zu sich selbst kommt, wäre der Chanson aus Michael Endes Sammlung „Trödelmarkt der Träume“ ein natürlicher Kandidat: Begleitet vom traurigen Klavier Tanja Hupperts und den sensiblen Geigen-Kommentaren Franziska Strohmayrs, singt Anna-Lena Elbert „Das Mädchen Einsamkeit“ mit dem Charme einer kindlichen Diseuse. Die Sinnhaftigkeit, hier transzendiert sie ins Surreale.
Michael Bastian Weiß