Nimmt man es unbefangen wahr, klingt es zunächst einmal schön, wenn ein Tonsetzer über einen – nicht selten älteren – Kollegen sagt, das Hören von dessen Musik mache ihm Lust darauf, selbst zu komponieren. Nur ein Publikum, das nach einem umfangreichen Konzertprogramm mit Werken György Ligetis sehr sensibel für mikrotonale Abweichungen geworden ist, kann möglicherweise in dem Kompliment einen leisen Oberton mitschwingen hören: nämlich, dass die Begegnung mit den Kompositionen eines Kollegen den Ehrgeiz erweckt, es – besser zu machen.
Doch auch diese, zugegeben, verdeckte Ambiguität ist per se nichts Falsches, begreift man nämlich das Komponieren nicht als Konkurrenzkampf, sondern als letztlich gemeinsame Arbeit an einer großen Sache, für die das Beste gerade gut genug ist. So gesehen ist es ein wichtiger Akzent, den dieses Konzert in der Bayerischen Akademie der Schönen Künste den vielen Hommagen an György Ligeti hinzufügt, die zu dessen 100. Geburtstag fällig werden. Unter dem Titel „Ligeti 100 – und die Folgen“ werfen ein Vortrag und zwei neuere Werke, die Kollegen nach Ligetis Tod 2006 geschrieben haben, Streiflichter auf die bedeutende Lehrtätigkeit des ehemaligen ordentlichen Hochschulprofessors, der in seiner berühmten Hamburger Klasse eine beeindruckende Anzahl international namhafter Komponistinnen und Komponisten ausbildete.
In seinem Vortrag betont der Musikwissenschaftler Ulrich Mosch, der bis zu seiner Emeritierung 2020 an der Universität Genf lehrte, dass für Ligeti das Unterrichten keine Einbahnstraße war. Anregungen, die für sein musikalisches Denken und Schaffen wichtig wurden, empfing er auch von den Schülerinnen und Schülern, von den konstruktiven Möglichkeiten der mittelalterlichen Musik über Techniken außereuropäischer Kulturen bis hin zum Jazz und den Produkten der Popularmusik. Stilmerkmale der letztgenannten Richtungen kann man etwa in dem „Klavierstück III: Alpini-Steig“ von 2017/18 des 1948 geboren Hans-Christian von Dadelsen wiederfinden: unregelmäßige, komplexe rhythmische und motivisch-harmonische Muster bilden ein bewegtes, doch letztlich weniger teleologisch entwickeltes als meditativ kreisendes Kontinuum, das eine Assoziation an Jazz-Rock und Fusion weckt.
Ligetis lebenslanges Interesse an Obertonphänomenen und außereuropäischen Stimmungssystemen hingegen hat der 1953 geborene Wolfgang von Schweinitz weiter verfolgt, ja, in gewisser Hinsicht bis zum Exzess weiter getrieben; durchaus im Sinne der Risikoästhetik seines Lehrers, der extreme Spielanweisungen wie „Vivacissimo“ und „Presto possible“ bevorzugte. Das Duo Helge Slaatto, Violine und Frank Reinecke, Kontrabass, hat eine wohl singuläre Virtuosität darin erreicht, höchste und höchst impraktikable Obertöne so bewundernswert sicher zu greifen, dass sich Klänge von geradezu verwirrender Reinheit herstellen: eine Art Exerzitium, von Ferne an die Experimente eines Heinrich Ignaz Franz Biber gemahnend, das womöglich auch in einer kleinen bis mittelgroßen Kirche gut aufgehoben wäre.
Dass György Ligetis Unterricht auch noch lange nach der Graduierung motivierend und inspirierend auf seine Schüler wirkt, lässt sich an diesen zwei Beispielen verfolgen. Ob sie ihn vielleicht still und heimlich auch übertreffen wollten? Zumindest in diesen beiden Arbeiten zeigt sich eher eine, wenngleich unscharfe, Analogie zu der Strenge und Konzentration, mit der Ligeti etwa sein längst zum Klassiker avanciertes Cembalo-Stück „Continuum“ von 1968 zu fast gegenständlicher Plastizität verdichtete. Der Annahme einer Kontinuität des Lehrer-Schüler-Verhältnisses widerspricht hingegen die Sonate für Viola solo (1991–94), die Ligeti für Tabea Zimmermann schrieb, nachdem er sie im Radio spielen gehört hatte. Die Widmungsträgerin höchstpersönlich führt vor, wie spannungsvoll die sechs Sätze zwischen rhythmisch intrikater Determination und monologisierender agogischer Freiheit changieren; angehörs des immensen Volumens, mit dem sie den voll besetzten Saal der BAdSK ausfüllt, teilt sich auch unmittelbar Ligetis Begeisterung für Tabea Zimmermanns Violaklang unmittelbar mit.
Als ein Ligeti-Interpret sui generis erweist sich Andreas Skouras: Auf dem Klavier macht er mit seinem markigen Ton und seiner polyrhythmischen Intuition die Schwierigkeit einer späten Etüde vergessen, auf dem Cembalo veranschaulicht er die barocke Konstruktivität der „Passacaglia ungherese“ und entdeckt in „Continuum“ mit seinem zwingenden Spiel eine Art altgriechischer Ausweglosigkeit. Skouras ist es auch, der in Ligetis Trio für Violine, Horn und Klavier von 1982 sanft die Regie führt; am Klavier balanciert er die Intimität des Geigentons von Natasha Lipkina mit der allseits gefürchteten, weil grausam schwierigen Hornpartie aus: sensationell, wie risikobereit und gleichzeitig absolut souverän der junge Jernej Cigler in Höhen aufsteigt, von denen manche Kollegen wohl gar nicht ahnen, dass sie auf diesem diffizilen Instrument überhaupt noch zu erreichen sind. Man soll sich mit solchen Aussagen ja zurückhalten. Zumindest schwer vorstellbar ist aber, dass der Komponist, ebenso wie die Lehrerpersönlichkeit, selbst hier nicht seine helle Freude gehabt hätte.
Michael Bastian Weiß