Ohne den ohnehin so fleißigen wie kompetenten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Musikabteilung der Bayerischen Akademie der Schönen Künste mehr Arbeit aufbürden zu wollen, sei hier eine kleine Anregung gegeben: Es wäre, gerade bei Uraufführungen, höchst aufschlussreich, auf dem Programmzettel – oder vielleicht auch als Hintergrund-Projektion beim Komponistengespräch – eine Seite aus dem Manuskript des jeweiligen gespielten Werkes in den Blick nehmen zu können. Abgesehen von handschriftlichen Eigenheiten ist es faszinierend zu sehen, ob und wie sich der Gestus einer Musik im Ebenmaß oder eben im turbulenten Handgemenge widerspiegelt.
Wie etwa hat der Dirigent, Pianist und Komponist Gregor A. Mayrhofer, Jahrgang 1987, längere rhythmische Wiederholungen in seinem Streichquartett notiert, das als Kompositionsauftrag der Akademie von 2020 pandemiebedingt erst in diesem Jahr uraufgeführt wird? Hat er, wie das arbeitsame Komponisten tun, alle der vielen Noten ausgeschrieben, oder hat er – was natürlich vollkommen in Ordnung wäre – sogenannte Faulenzer verwendet, jene Abbreviaturen, die im heutigen Computerzeitalter leicht mit dem Tastenbefehl „copy and paste“ ausgeführt werden können? Wahrscheinlich hat jede Komponistin und jeder Komponist schon einmal die Erfahrung gemacht, dass so profane Umstände wie eine ermüdende Hand die Frage reifen ließen, ob es nicht auch ein wenig kürzer ginge.
Dass Werke nach der Uraufführung noch einmal revidiert werden, ist gang und gäbe, und Mayrhofer könnte darüber nachdenken, einige recht selbstähnliche, durch unablässige Repetition rhythmischer Muster bestrittene Passagen zu straffen; zumal die drei neutral benannten Sätze „Allegro“, „Adagio“ und „Prestissimo con spirito“ sich im Gestus und der Satztechnik nicht wesentlich unterscheiden. Am stärksten lässt der langsame Satz aufhorchen, in welchem sparsame, zwischen Geräusch, Laut und Klang changierende Ereignisse kurz über der Hörgrenze die Aufmerksamkeit aufrecht erhalten; das phantastische Asasello-Quartett erreicht hier eine Hochspannung, wie sie einem Quartett von Béla Bartók würdig wäre. Die Ecksätze sind, obwohl hier natürlich auch Unterschiede wahrzunehmen sind, doch größtenteils beide von sich stetig abwechselnden melodisch-metrischen Patterns und Effekten wie Schaben, Herumrutschen und Quietschen auf dem Griffbrett geprägt. Eine besondere Vorliebe hat Mayrhofer für Glissandi, die an das Maunzen von Katzen erinnern. Wenn sie im Finalsatz und deren Coda wiederkehren, ergibt sich eine formale Klammer, deren Wirkungsgrad freilich dadurch geschmälert wird, dass sich der Effekt vorher schon ein wenig abzunutzen drohte. Wenn er vorher länger absent gewesen wäre, wäre das Wiedererkennen eine Überraschung.
Noch ein weiterer Charakterzug von Mayrhofers Streichquartett wäre an der Handschrift der Partitur wohl besser zu verfolgen als an ihrem Ausdruck. Je genauer die Koordination der Stimmen übereinander im Notenbild erscheint, umso deutlicher wird, dass die Satztechnik in wesentlichen Anteilen homophon ist. Bis auf wenige Passagen, etwa, wenn rhythmische Bausteine gegeneinander verschoben werden, bewegen sich alle Instrumente in dieselbe Richtung oder teilen sich eine praktisch einstimmige Linie oder Ereignisfolge auf. Vielleicht verstärkt sich deshalb, weil nicht eine Form von wenigstens rudimentär kontrapunktisch selbständiger Stimmführung die konstruktiven Aspekte des Satzes unterstreicht, auch der Eindruck einer improvisatorischen Schreibweise.
So schwärmt Gregor A. Mayrhofer als Pianist im Gespräch mit seinem Komponistenkollegen Tobias PM Schneid davon, beim Jazz-Spiel in einen gleichsam absichtslosen „Flow“ zu geraten; jazzige Anklänge finden sich neben Anleihen an generisch-klassischem Material etwa im Kopfsatz des Quartetts. Wie bei einer freien Improvisation teilen sich Momente kompositorischer Konstruktion wie die Funktionalität formaler Markierungen, aber eben auch eine Eigenständigkeit komplexer Stimmführung, wie sie im Medium der Schriftlichkeit leichter zu bewältigen ist (wenn man nicht gerade Bach oder Bruckner heißt), nicht immer plastisch mit. Schließlich könnte ein weiterer Aspekt des Werkes, der mit der Stimmführung zusammenhängt, von Mayrhofers pianistischer, nämlich vollgriffiger Praxis herkommen: Die Instrumente sind über lange Abschnitte hinweg immer alle gleichzeitig im Einsatz.
Einige dieser Beobachtungen werden in dem etwas älteren Werk vorweggenommen, das der Uraufführung vorausgeht, und das, wie Gregor A. Mayrhofer im Gespräch mit Schneid berichtet, für ihn während einer frühen Schaffenskrise noch während des Studiums nicht weniger als ein „Erweckungserlebnis“ darstellte. Auch im Streichquartett Nr. 2 „IXXU“ (1998-2004) des 1963 geborenen Pianisten und Komponisten Thomas Larcher reihen sich oft rhythmisch ostinate Abschnitte aneinander, die zwischen Nervosität, tonal-meditativer Akkordik und hysterischen Repetitionen schwanken (da, wie Tobias PM Schneid berichtet, eine Erklärung des rätselhaften Untertitels IXXU nicht aufzutreiben war, sei hier eine eigene Auflösung versucht: Das Kürzel „XX“ steht laut Internet in der digitalen Welt für „romantische und platonische Küsse“. „I“ ist das englische „Ich“, „U“ hört sich an wie „you“; bleibt die Frage, an welchen Adressaten die erste Person diesen intimen Gruß sendet).
Auch bei Larcher ist das Streichquartett, selbst, wenn die Stimmen streckenweise heterophon parallel laufen, meist homophon eingesetzt. Gerade diese Aspekte der satztechnischen Einhelligkeit und Gewinnung von Zeit durch Wiederholung in sich durchaus differenzierter Formeln unterstreicht das vorzügliche Asasello-Quartett, das vollendet intuitiv zusammenspielt, die expressionistischen Ausbrüche ohne Selbstschonung nachvollzieht, und, als wäre das noch nicht genug, eine unendliche Palette von Farben in perfekter klanglicher Abstimmung und wunderschöner Tongebung ausbreitet. Das in Köln beheimatete Quartett ist eine echte Entdeckung; glücklich, wer als Komponistin oder Komponist mit den Asasellos zusammenarbeiten kann. Wer zu dem Vergnügen kommt, schuldet den je zwei Damen und Herren dann ein luftküssend dankendes „IXXU“.
PD Dr. Michael Bastian Weiß