Der Komponist Walter Zimmermann stellt in der Bayerischen Akademie der Schönen Künste das von ihm initiierte und konzipierte Programm „Musik für Wittgenstein“ vor
Einer der bedeutendsten Philosophen des 20. Jahrhunderts, sechs Komponisten, die ihn musikalisch kommentieren, dazu eine so wichtige, bestens informierte wie umfangreiche Buchveröffentlichung, die nicht weniger enthält als ein musikalisch-denkerisches Lexikon: Das Projekt „Musik für Wittgenstein“ des Komponisten und Wittgenstein-Experten Walter Zimmermann ist thematisch so ausgreifend und nach innen so verästelt, dass darüber schnell aus dem Blick gerät, wie originell und inspirierend die zugrundeliegende Idee ist.
Dass Ludwig Wittgenstein, der zusammen mit Gottlob Frege und dem jungen Bertrand Russell die Grundlagen für die primär als Sprachphilosophie auftretende Analytische Philosophie des englischsprachigen Raums gelegt hat, aus einem hochmusikalischen Haushalt kam, dürfte allgemein bekannt sein; sein älterer Bruder Paul, ein Pianist, der im Ersten Weltkrieg seinen rechten Arm verlor, kommissionierte eine Reihe von Klavier-Werken für die linke Hand allein. In Ludwig Wittgensteins Hauptwerken, dem frühen „Tractatus logico-philosophicus“ und den späteren „Philosophischen Untersuchungen“, finden sich immer wieder musikalische und thematisch verwandte Momente; einen weiteren, kleineren Bestand lieferten die erst in den 1960er Jahren fremdherausgegebenen Vorlesungen und Gespräche über Ästhetik nach, die Wittgenstein 1938 in Cambridge gehalten hatte, und in denen sich etwa interessante Gedanken über die „synkopische Musik von Brahms“ finden (Wittgenstein, „Lectures and Conversations on Aesthetics, Psychology and Religious Belief“, Oxford 1966, auf deutsch zitiert nach „Vorlesungen und Gespräche über Ästhetik, Psychoanalyse und religiösen Glauben“, Frankfurt/M.: Fischer, 3. Auflage 2005).
Wie intensiv und fortlaufend Wittgenstein jedoch über Musik nachdachte und dies auch in schriftlichen Notaten festhielt, ist erst durch die jüngere und jüngste Forschung sichtbar geworden, federführend durch die editorische Arbeit des Wittgenstein Archives an der Universität Bergen (WAB, https://wab.uib.no); derzeit entsteht an der Philosophischen Fakultät der LMU eine einschlägige Dissertation von Daphne Bielefeld, die auch beratend an Zimmermanns Projekt beteiligt war.
Was viele überrascht haben dürfte, die sich bei Wittgenstein ein wenig auskennen, ist, als wie grundlegend und nicht zuletzt persönlich affektiv sich sein Verhältnis zur Musik im Licht der neueren Forschung darstellt. So zitierte Walter Zimmermanns Kollege Nikolaus Brass, Direktor der Musikabteilung der Bayerischen Akademie der Schönen Künste, schon in seiner Einführung eine höchst bemerkenswerte Notiz, die gleichsam als Motto über dem ganzen Abend stand (hier wiedergegeben nach Wittgensteins originaler omittierender Interpunktion):
„Ich denke oft das Höchste was ich erreichen möchte wäre eine Melodie zu komponieren. Oder es wundert mich daß mir bei dem Verlangen danach nie eine eingefallen ist. Dann aber muß ich mir sagen daß es wohl unmöglich ist daß mir je eine einfallen wird, weil mir dazu eben etwas Wesentliches oder das Wesentliche fehlt. Darum schwebt es mir ja als ein so hohes Ideal vor weil ich dann mein Leben quasi zusammenfassen könnte; und es kristallisiert hinstellen könnte. Und wenn es auch nur ein kleines schäbiges Kristall wäre, aber doch eins“.
Zu dieser Stelle wäre viel zu sagen; für Walter Zimmermanns Projekt ist das von Wittgenstein in ganz uncharakteristischer Weise so genannte „Verlangen“ zentral, „eine Melodie zu komponieren“. In dem höchst ertragreichen Gespräch mit der Autorin und Lektorin Katharina Raabe, die den von Zimmermann 2022 herausgegebenen Wittgenstein-Band „Betrachtungen zur Musik“ bei Suhrkamp betreute, betonte Zimmermann nicht ohne eigenes emotionales Involvement, auf welche spektakulär emphatische Weise sich die von Wittgenstein zeit seines Lebens betriebenen Reflexionen auf das angemessene Bezeichnen und Ausdrücken von Tatsachen und Sachverhalten („was der Fall ist“, vgl. Tractatus, Sätze 1 und 2), auf die Problematik des Verstehens, auf seine eigentümliche Semantik von „Dinglichkeit“ und „Verdinglichung“, fortsetzen als geradezu romantische Sehnsucht, aus dem Philosophieren ins musikalische Schaffen zu transgredieren. Nur als Ergänzungen für weitere Wittgenstein-Diskussionen seien drei Begriffsverhältnisse genannt, die man bei Wittgenstein noch etwas präziser bestimmen müsste: die wesentliche Differenz von Sinn und Bedeutung, die auf Gottlob Frege zurückgeht; die schwer zu fassende Kontiguität von Wittgensteins Ausdruck „Gebärde“ mit dem der „Gestalt“, wie er zeitgleich zu Wittgensteins Wirken in einem vielstimmigen wissenschaftlichen Diskurs behandelt wird; und schließlich der Frage, ob Wittgensteins Nachdenken über Denken, Sprache, Verstehen nicht die Faktizität von Bewusstsein und Selbstbewusstsein zu ergänzen wäre, die er selbst in den Hintergrund drängt, ohne welche jedoch von Zeitlichkeit nicht oder nur schwer gesprochen werden kann.
Walter Zimmermanns verdienstvoll systematisches Ausleuchten des musikalischen Wittgensteins bringt den Philosophen in eine überraschende, bislang so deutlich noch nicht sichtbare Parallelität zu Thomas Mann, der im „Doktor Faustus“ ebenfalls im Medium der Sprache auf die andere Kunst, die Musik, hindeutete. Der Schriftsteller wurde bei diesem Medienwechsel bekanntlich von einem Philosophen, Theodor W. Adorno, beraten, dessen literarische Kompositionen Mann seitenweise in den Roman integrierte. Im Gegensatz zu Mann hat Wittgenstein jedoch schüchterne Kompositionsversuche gemacht, die aber nach dem Kenntnisstand des Autors dieser Zeilen über wenige und weitgehend einstimmige Taktnotate nicht hinausgehen.
Genau hier setzte der Komponist Walter Zimmermann an und ermunterte eine Kollegin und vier Kollegen, „Kommentare“ zu einem bestimmten, in a-moll stehenden Musikfragment des Philosophen zu komponieren. Die Beschränkung auf eine Violine erlaubt direkte Vergleiche. Interessanterweise lassen sich die sechs kurzen Stücke von Albert Breier, Nils Günther, Yonghee Kim, Alejandro Moreno, Marc Sabat und Walter Zimmermann, grob und bloß der Tendenz nach in zwei Teilmengen ordnen: Die eine führt Wittgensteins Aphorismus eher linear monologisch weiter, dabei auf barocke Formen anspielend oder Gustav Mahler zitierend, die melodische Gestalt quasi prüfend hin- und herhaltend; die Geigerin Nagi Tsutsui entwickelt diese Monologe mit Sinn für größere Zusammenhänge, widmet aber gleichzeitig der Artikulation, der Gliederung in Phrasen, volle Aufmerksamkeit. Die andere, kleinere Teilmenge, löst das Ausgangsmaterial – mit einer auffälligen Präferenz für Quinten – in seine intervallischen Elemente auf; die Atomisierungen verlieren an keiner Stelle an Expressivität, weil Nagi Tsutsui ihren reichen Ton und ihr großes Spektrum an Stricharten dazu nutzt, die klanglichen Möglichkeiten des Komponierten voll auszuschöpfen.
Eine Synthese von allusiver Linearität und dekonstruierende Atomisierung nimmt Walter Zimmermann in seinem abschließend uraufgeführten Stück „MELOPÖIE – Musik für Wittgenstein #2“ vor. Die naheliegende Frage, die sich nach dem Hören der sechs musikalischen Kommentare stellt, ist natürlich, ob die nachgeborenen Komponisten die Sehnsucht des Philosophen nach einer Melodie befriedigen konnten. Alles spricht für ein bejahendes Urteil – wer nicht zustimmt, soll es besser machen. So endet dieses schöne Programm mit einem Moment, mit dem man Wittgenstein nicht ohne Weiteres in Verbindung bringen würde: der Aussicht auf eine Erlösung – wenn auch unter ästhetischen Vorzeichen.
Michael Bastian Weiß