Bei öffentlichen Diskussionen können sich die wirklich überraschenden Momente auch dann ereignen, wenn sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer nicht widersprechen, sondern recht geben. „Willst du mehr Leute erreichen, musst du es doofer machen“, konzediert Björn Wilhelm, Programmdirektor Kultur beim Bayerischen Rundfunks, seinem Gesprächspartner Gert Heidenreich, Schriftsteller und Sprecher. Das angenehm Ehrliche an dieser Aussage ist, dass statt dem euphemisierenden Werbesprech „Breitenwirkung“ das benannt wird, was notwendige Folge der allseitigen Popularisierung von Radioprogrammen ist: Verflachung, inhaltliche Aushöhlung, jene Häppchenkultur, die innerhalb des Rundfunkwesens sogar einen den ursprünglichen Begriff ziemlich infam missbrauchenden Namen hat: „Durchhörbarkeit“. Genau diese Verflachung jedoch, so Wilhelm weiter, werde bei der Umgestaltung des Kulturkanals Bayern 2 mit Sicherheit vermieden. Es werde also alles gar nicht so schlimm, sondern sogar besser. Die Titelfrage der Podiumsdiskussion „Kahlschlag beim Kulturauftrag?“ wurde, wie der Präsident der Bayerischen Akademie der Schönen Künste, Winfried Nerdinger, eingangs betonte, fairerweise denn auch mit einem Fragezeichen versehen.
Im Spätsommer dieses Jahres war ein internes Schreiben von Mitarbeitern des Bayerischen Rundfunks an die Öffentlichkeit gelangt, in welchem vorab, aber nicht abgesprochen mit den Verantwortlichen, ein Vorgeschmack der Änderungen innerhalb der Programmgestaltung des Kultursenders Bayern 2, bekannt und geschätzt etwa für seine hochwertigen Literatursendungen, gegeben wurde. In den letzten Monaten konnte Björn Wilhelm bei Interviews schon einige Erfahrungen bei der Verteidigung der Reformpläne machen. Er hatte dann auch leichtes Spiel, die bei der Podiumsdiskussion in der Bayerischen Akademie der Schönen Künste von verschiedenen Seiten geäußerte Befürchtungen zu parieren. Ohne auf die geplanten kleinteiligen Verschiebungen im Programmablauf hier näher einzugehen, war die von ihm rhetorisch durchaus geschickt in Teilen mehrfach wiederholte Verteidigungslinie ungefähr diese: Es gebe bei der Nutzung des Kulturangebots der öffentlich-rechtlichen Sender mittlerweile ein eklatantes Missverhältnis; 75% des Budgets werden für die Zielgruppe über 50 Jahre ausgegeben, der Beitrag hingegen muss aber bekanntlich von allen entrichtet werden. Diesem „unaufhaltsamen Medienwandel“ müsse aus Gründen der „Generationengerechtigkeit“ Rechnung getragen werden. Ohnehin beschränke sich die Reform im Wesentlichen darauf, für die vom Hörerschwund schwer gezeichneten Sendungen bessere Sendeplätze zu finden, während in den einzelnen Redaktionen alles beim Alten bleibe, auch finanziell.
Tatsächlich ist aus einer unvoreingenommenen Perspektive an diesen Punkten vielleicht manches im Detail zu kritisieren, aber kaum im Wesentlichen abzulehnen. Auch der geplante Ausbau des digitalen Angebots stieß in der Runde auf keinen Widerstand; die Grünen-Politikerin Sanne Kurz, Mitglied des BR-Rundfunkrates, mahnte ergänzend an, dass bei den zufriedenstellend genutzten Mediatheken noch ein kuratorisches Moment hinzu kommen müsse, das es insbesondere den Jugendlichen erleichtere, überhaupt auf die Angebote zu stoßen, die sie interessieren könnten – auf dass sie nicht bloß „auf Tiktok herum“ hingen.
Daran, dass dieses Problem, die jeweiligen Teile des Publikums überhaupt noch zu erreichen, ein vom ÖRR hausgemachtes ist, erinnerte die Literaturkritikerin Cornelia Zetzsche. Für viele ältere Menschen sei das Radioprogramm des Bayerischen Rundfunks geradezu „Lebenszeit“, werde in den Tagesablauf integriert und gehöre mithin förmlich zur eigenen „Biographie“. Für ihre oft jahrzehntelange Treue werden, da ist Zetzsche zuzustimmen, diese Hörerinnen und Hörer nun damit belohnt, dass ihnen zumindest indirekt vermittelt wird, sie gehören nicht mehr zur eigentlichen „Zielgruppe“ (deren Fetischisierung ohnehin, abgesehen von der grässlichen Assoziation einer ganzen Menge von Menschen, die Fadenkreuze auf dem Rücken trägt, die magische Vorstellung offenbart, bis zum willkürlich festgesetzten Alter von 49 sei man als Konsument noch relevant, ein Jahr später aber nicht mehr).
Zudem konnten sich beim sogenannten linearen Radioprogramm die Hörerinnen und Hörer nicht nur auf einen festen Sendeplatz einstellen, sondern auch gleichsam zufällige Entdeckungen machen, wenn man etwa beim Ein- oder Herumschalten „bei einer Sendung hängen“ blieb. Diese Serendipität, da hatte Heidenreich einen Punkt, entfällt im Digitalen komplett, und auch Wilhelm räumte ein, dass es „mutig“ sei, einmal bewährte Sendeplätze zu wechseln. Zu wenig beachtet wurde hingegen der zentrale Punkt, der hinter Heidenreichs Insistieren, das Medium Radio sei „eine eigene Kunst und kein Servicemedium“ , sichtbar wird, für den er übrigens den ersten Zwischenapplaus verbuchen konnte: Wenn der Rundfunk zunehmend nicht mehr als ein tatsächliches Ausstrahlen, als ein gleichsam nach Stundenplan vorstrukturiertes Angebot auf festen Sendeplätzen, begriffen wird, hört er eigentlich auf, seine ureigene Aufgabe überhaupt zu erfüllen. Denn um Sendungen in Mediatheken bereitzuhalten, in deren Angebot sich der Interessent halt gefälligst selbst zurecht finden soll, braucht man kein Radio; das kann im Internet etwa auch der Zeitungsjournalismus leisten, von den unzähligen privaten Inhalten, die trotz – oder wegen – meist amateurhafter Machart zu einer echten Konkurrenz geworden sind, ganz zu schweigen. In die gleiche Kerbe hieb der Komponist Enjott Schneider (u. a. Filmmusiken zu „Stalingrad“ und „Schlafes Bruder“), der befürchtete, dass „Schwieriges“ und „Sperriges“ – man könnte auch sagen: Hochkunst – immer weniger Chancen zur Realisierung bekämen, wenn sozusagen neben dem berüchtigten „Schielen auf die Quote“ nun auch noch die unbarmherzigen Abrufzahlen der Mediatheken hinzukämen.
An dieser Stelle machte die Diskussion den Fehler, sich auf dem allgemeinen Feld der Bildungspolitik zu verlieren, statt den BR-Repräsentanten Björn Wilhelm mit den wirklich brisanten Fragen zu konfrontieren, die nie einleuchtend beantwortet werden: Warum argumentiert der öffentlich-rechtliche Rundfunk überhaupt mit Zuhörer- oder Zuschauerquoten, wenn als erste seiner Aufgaben exakt die „Bildung“ bestimmt ist? Ist das nicht ein eklatanter Fehler, ja, der Urgrund des Problems? Müsste nicht das Programm nach diesem Auftrag ausgerichtet werden, anstatt den Massen hinterher zu senden, zumal seichte Unterhaltung – wie im übrigen auch die obszön teuren Sportübertragungen – genauso gut von den privaten Sendern bereitgestellt werden können? Wenn schlechte Sendeplätze Kultursendungen marginalisierten: Warum hat man dann nicht den Mut, etwa Theater- oder Opernübertragungen zur besten Sendezeit anzubieten, im Vertrauen darauf, dass die Akzeptanz vielleicht mit zunehmender Gewöhnung auch steigen könnte?
Vollkommen unverständlich ist in diesem Kontext zum Beispiel, warum ein international renommiertes Ereignis wie der jährliche ARD-Musikwettbewerb, der exklusiv und aufwendig allein der ARD gehört, nicht über Wochen hinweg auch das Hörfunk- und Fernsehprogramm zur Primetime beherrscht. Björn Wilhelm hätte auf einen solchen konkreten Vorwurf wahrscheinlich mit dem Verweis auf die allseits zugänglichen Mediatheken im Internet geantwortet. Doch genau diese Ausflüchte hätte man ihm nicht durchgehen lassen dürfen. Stattdessen machten es ihm viele seiner Mitdiskutanten zu leicht, indem sie statt pointierter Fragen meist länglich über ihre eigene Arbeit und Person referierten. Das ist bei solchen Podiumsdiskussionen leider viel zu oft so, und Miriam Zeh, Literatur- und Kulturredakteurin bei Deutschlandfunk Kultur, könnte vielleicht bei ihrer nächsten Moderation solche Anflüge von Anekdotik viel rascher wieder auf die sachliche Ebene zurückleiten.
Dankenswerterweise setzten zwei scharfsinnige Beiträge aus dem Publikum wertvolle Schlussakzente. Auf die maliziöse Frage hin, welche Unternehmensberatung an der Ausarbeitung der Reformpläne beteiligt gewesen sei und was diese gekostet habe, legte sich Björn Wilhelm fest: Es habe außer einer maßvoll entlohnten externen Moderatorin keine auswärtige Beratung gegeben. Ein mit geschätzten Ende zwanzig, Anfang dreißig Jahren noch als jung geltender Hörer stellte klar, dass die ihm bekannten Menschen seines Alters bereits gerne Bayern 2 hören, ohne dazu eigens Betreuungsangebote durch Vertreter der älteren Generation zu benötigen. Ist es nicht möglich, dass Hörerinnen und Hörer jeden Alters, die sich für Kunst und Kultur interessieren, ein Programm wollen, das auf hohem Niveau – Kunst und Kultur sendet?
Prof. Dr. Michael Bastian Weiß