Als Doris Lessing, geborene Taylor, 1949 mit dem ersten Roman im Gepäck nach England kam, hatte sie schon ein an Erfahrungen und Wechselfällen reiches Leben hinter sich. Die Tochter eines verwundeten Heimkehrers aus dem Ersten Weltkrieg und einer Krankenschwester wurde 1919 im damaligen Persien, heute Iran, geboren. Die Eltern zogen 1924 nach Südrhodesien, dem heutigen Simbabwe, wo sie eine Farm betrieben. Die Tochter beschrieb sich später als unglückliches, rebellisches Kind einer lieblosen Ehe. Es folgte ein früher Schulabbruch, eine Reihe von unbefriedigenden Brotberufen und das Wagnis zweier Ehen, die ebensowenig prosperierten wie die elterliche Farm. Nach der Scheidung von ihrem zweiten Mann, dem deutschen Exilkommunisten Gottfried Lessing, behielt sie das Kind aus der kurzen Verbindung und den Nachnamen.
Sie behielt auch – bis zum ungarischen Aufstand – ihre Beziehung zur kommunistischen Partei bei, Aspekt einer lebenslang bewahrten gesellschaftskritischen Einstellung, und ihre tiefe, notwendig zwiespältige, Bindung an Afrika, die ihr eine fruchtbare Außenperspektive auf die englischen Verhältnisse ermöglichte. Ihre Grunderfahrung war die schwindelerregende Vergänglichkeit von Reichen und Ideologien: das 1000 jährige Reich in Deutschland, der Sowjetkommunismus, das British Empire, die Kolonialherrschaft: »Why should one believe in any kind of permanence?«
Die scharfe Kritik an der Politik der Apartheid machte sie für Jahrzehnte im offiziellen Südafrika zur unerwünschten Person. Ihr schockierender, atmosphärisch dichter Erstlingsroman über die tödliche Liebe einer Weißen zu ihrem schwarzen Diener rührte an Tabuthemen der Kolonialzeit und wurde in England stark beachtet. Er trug den Titel The Grass is Singing, ein Zitat aus Eliots Waste Land, das die erst dreißig Jahre später erschienene deutsche Version zur post-Dreiserschen Formel Eine afrikanische Tragödie banalisierte. Danach kam ihr bis heute berühmtester Roman, The Golden Notebook von 1962, die in raffinierter Perspektivik erzählte Geschichte zweier ›freier‹ Frauen, von denen die eine, Anna Wulf, gewisse autobiographische Züge trägt. Das Buch wurde zu einer Art Bibel des frühen Feminismus, mit dem Doris Lessing auf distanzierte Weise sympathisierte.
Sie war und blieb eine produktive Autorin. Ein sorgfältig konzipierter und ausgearbeiteter Roman pro Jahr war ihr Standard, mit einer gewissen Vorliebe für fünfbändige Serien: »Ich liebe es, Geschichten zu erzählen.« Harmlos waren ihre Geschichten nie, weder die Martha Quest-Serie,die den Lebens- und Bewußtseinsweg einer jungen Frau inmitten gesellschaftlicher Umwälzungen nachzeichnet, noch die fünf Bände Canopusin Argos, ein Ausflug ins Genre der Weltraumfiktion, mit dem Novum eines außerirdischen Blicks auf unseren untergehenden Planeten. »Unsere Gesellschaft hängt ab von einigen empfindlichen Mechanismen, und die sind äußerst kippelig« (dicey). Immer wieder hat sie neue Themenbereiche und Erzählformen erprobt und ihre Leserschaft genötigt, umzudenken und die ungewohnten Wege mitzugehen: von der Gesellschaftskritikin die psychischen Abgründe des Individuums, ins Apokalyptische oder hin zu Mythos und Mystik, vor allem im Spätwerk.
Ihre Könnerschaft war gegen die Versuchungen und Boni des Literaturbetriebs immun. Die Aufnahme in unsere Akademie quittierte sie 1982 mit höflichem Dank und der Bitte, sie ihrer vielen Verpflichtungen wegen von einem Münchner Auftritt zu dispensieren. Einfach immer nur Teil des Zeitgeistes sei sie gewesen, pflegte sie zu sagen, und vom Nobelpreis, der ihr mit achtundachtzig zufiel, zeigte sie sich heiter unbeeindruckt: »Sie wollten mich grade noch rechtzeitig erwischen, ehe ich abkratze.« Doch, eigensinnig wie sie war, lebte sie noch sechs weitere Jahre und starb am 17. November 2013 in London, kurz nach ihrem kranken Sohn, den sie bis zuletzt gepflegt hatte.
Werner von Koppenfels