»Wir sollten als gute Interpreten nur Nachschöpfer sein. Man bringt Stücke zum Leben, indem man sie klingend macht.« Es gibt Interpreten, die sind nur oder kaum Nachschöpfer und es gibt solche, die ´nur´ Nach-Schöpfer sind. Nie hat sich Dietrich Fischer-Dieskau über den Komponisten erhoben, aber sein Selbstbewußtsein war enorm, so groß, daß es bis heute, gerade in den sogenannten »Kollegenkreisen«, auch gewisse Animositäten gegen ihn gibt. Ein Künstler von diesem Format wirft Schatten, er verdunkelt andere, wieder andere fühlen sich beschattet, verschattet, aber wie hätte sich ein Sänger wie Fischer-Dieskau kleiner machen können, als er war, um anderen den Vortritt zu lassen? Das kann man sich nicht vorstellen und auch nicht fordern.
Eine Jahrhundertkarriere war dies ohne Zweifel. Man wird, zieht man ein arithmetisches Mittel aus Leistung, Ruhm und diskographischer Hinterlassenschaft, für das 20. Jahrhundert vier Sänger nennen können, die alles andere überstrahlen: Enrico Caruso, Maria Callas, Dietrich Fischer-Dieskau und Plácido Domingo. Was die aufgenommenen Schallplatten betrifft, so dürfte der Bariton die Kollegen deutlich überragen, die sich nahezu ausschließlich auf die Oper konzentrierten, während er den Löwenanteil seiner Aufnahmen im Bereich des Liedes und der Konzertmusik einspielte, daneben aber weit mehr Opern auf der Bühne sang und aufnahm, als dies dem flüchtigen Blick von heute klar ist. Und so ist, da der Ruhm Fischer-Dieskaus als Liedinterpret weltweit nicht erschütterbar ist, es besonders wichtig, darauf hinzuweisen, was er alles als Opernsänger geleistet hat; bei dieser Sichtung kommt man aus dem ungläubigen Staunen nicht heraus. In beliebiger Reihung und nicht vollständig sind das: Posa, Wolfram, Almaviva, Jochanaan, Morone (in Pfitzners »Palestrina«), Don Giovanni, Busonis Faust, Wozzeck, Falstaff, Renato (»Ballo in Maschera«), Mandryka, Mathis (Hindemith), Onegin, Amfortas, Mittenhofer (in Henzes »Elegie für junge Liebende«), Barak (»Frau ohne Schatten«), Verdis Macbeth, Danton (Einem), Cardillac, Germont, Wotan (»Rheingold«), Alfonso (»Cosi fan tutte«), Michele (in Puccinis »Tabarro«), Hans Sachs, Reimanns Lear, Amonasro. Und da sind die nur im Studio aufgenommenen oder konzertant gesungenen Rollen noch nicht mitgerechnet: Scarpia, Rigoletto, Borromeo (wieder in »Palestrina«), Messiaens Franziskus, Jago....hier muß die Aufzählung abbrechen.
Noch umfassender das Liedrepertoire: kein Mensch würde es heute mehr wagen, das (nahezu) gesamte Liedschaffen Franz Schuberts mit einem Sänger aufzunehmen. Es gibt zwei neuere Gesamtaufnahmen, beide mit einer Fülle von diversen Sängern – was Vorteile hat, aber auch den Nachteil der manchmal deutlich auseinanderklaffenden Qualität. Die souveräne Einheitlichkeit des Niveaus in Fischer-Dieskaus und Gerald Moores klassischer Einspielung wird Legende bleiben. Und er hat ja nicht nur die Säulen des Liedrepertoires interpretiert und das in aller Breite und Tiefe, sondern sich auch beispielsweise für Othmar Schoeck, den Schweizer Meister, eingesetzt, der es wahrlich verdiente, in einem Atem mit den Größten genannt zu werden – wenn er heute überhaupt noch gelegentlich aufgeführt und aufgenommen wird, dann doch wohl nur, weil jüngere Interpreten durch Fischer-Dieskau daraufgekommen sind, daß es da einen Schatz zu heben gilt.
Begonnen hatte Alles in einem ungeheizten Studio des Berliner RIAS beim Jahreswechsel 1947/48, als ein sehr junger Mann, kaum über Zwanzig, die Schubertsche »Winterreise« aufnimmt, die er noch während des Krieges bereits vor Publikum gesungen hatte. Der Krieg ging an dem spät Einberufenen einigermaßen glimpflich vorüber. Georg A. Walter und Hermann Weissenborn waren seine Lehrer gewesen, die die eklatanten ursprünglichen Anlagen eines sängerischen Wunderknaben, einer stupenden Frühreife, in die richtigen Bahnen lenkten. Sein erster Bühnenauftritt ist wie die erste »Winterreise« auch erhalten: er singt an der Städtischen Oper seiner Heimatstadt Berlin den Posa in Verdis »Don Carlos« im November 1948, also mit 23 Jahren, und man darf feststellen, daß dies der jüngste Posa ist, der je aufgezeichnet wurde und gleichzeitig einer der besten. Es ist ein hoher lyrischer Bariton mit einer erstaunlich perfekten Technik. Der einzige Tribut an seine verblüffende Jugend ist darin zu hören, daß die mit Kraft gebildeten hohen Töne noch nicht jene klangliche Rundung haben, die Fischer-Dieskau in diesem Alter nicht haben konnte, die er aber sehr bald erreichte. Ein nahezu fertiger lyrischer Bariton mit einem ungewöhnlichen, ebenso klaren, wie edlen Timbre ist es, der uns da entgegentritt, und wir Nachgeborenen, die wir das nicht miterlebt haben, verstehen das Erstaunen der Musikwelt um 1950 darüber, wie so etwas möglich sein konnte. Man muß bedenken, daß der Liedgesang gerade in Deutschland vor Fischer-Dieskau keineswegs den Rang hatte, den vor allem er nicht nur befestigte, sondern auch installierte. Gewiß gab es Gerhard Hüsch und Heinrich Schlusnus, unter den emigrierten Künstlern auch Herbert Janssen, Alexander Kipnis, Elena Gerhardt und Elisabeth Schumann, die immer wieder mit Liedprogrammen auftraten, und Fischer-Dieskau selbst war es, der immer wieder betonte, daß er die moderne Liedinterpretation keineswegs erfunden habe. Er jedoch inaugurierte eine Zeitenwende: mit ihm (und das muß deutlich gemacht werden in einer Zeit, in der diese Kunst sich wieder, was das öffentliche Interesse betrifft, im Abschwung befindet) bekam der Liederabend einerseits eine neue Würde als gleichberechtigte Darbietungsform neben Opern- und Konzertgesang und er bekam als Maßstab das, was es zuvor nur ausnahmsweise gegeben hatte: in Programmzusammenstellung und Durchdachtheit einen intellektuellen Rang und interpretatorischen Anspruch, der sich nie zuvor wirklich etablieren konnte.
Da gibt es etwa eine Aufnahme der »Schönen Magelone« von Brahms von 1952, die geradezu unfaßbar ist in ihrer Bewältigung eines der schönsten aber auch schwierigsten und als spröde und undankbar angesehenen Liederzyklen der gesamten Literatur. Dieser Zyklus hat es bis heute nicht geschafft, sich wirklich im Repertoire zu behaupten (und wird es unter den Umständen von heute auch nicht mehr schaffen). Viele Jahre später hat Fischer-Dieskau die »Magelone«, die er öfter sang als jeder andere, nochmals mit Svjatoslav Richter aufgeführt und aufgenommen – dies gilt, nicht zuletzt wegen des unerreichten Richter, zu Recht als die Referenzaufnahme des Werkes (es ist auch eine Reverenzaufnahme), wenn auch die Verve jener ersten Version ihren eigenen Wert behalten wird. Der damals immer noch blutjunge Sänger war gerade mit diesem Zyklus das letzte Glied einer Traditionskette, deren er selbst sich sehr wohl bewußt war: seine Lehrer Walter und Weißenborn waren Schüler von Raimund von Zur Mühlen, dieser wiederum war Schüler von Julius Stockhausen, und Stockhausen hat als Freund von Johannes Brahms die »Magelone« uraufgeführt.
Das Wunderkind reifte zum Wundermann. Um 1960 war seine frühreife Stimme nunmehr perfekt austariert. Sie bekam im Verlauf seiner fast 50jährigen Karriere keine neuen Farben, behielt ihre lyrische Textur, wenn sie auch deutlich an Volumen und Tragfähigkeit gewann. Wer ihn in den frühen 60er Jahren etwa in München als Mandryka und als Barak gehört hat, wird bestätigen, daß dieser genuin lyrische Bariton Partien bewältigte, die eher volumenreiche, durchschlagende, dramatische Baritonstimmen erfordern. Fischer-Dieskau füllte mit seiner keineswegs heldenbaritonalen, aber eben technisch optimal projizierten Stimme die größten Häuser mühelos, auch weil er nie in den Fehler verfiel, in einem großen Raum, sich als Gegner oder Opfer etwa eines großen Strauss-Orchesters fühlend, zu forcieren, was immer der erste Schritt zum stimmlichen Untergang ist. Gleiches gilt für seinen Verdischen Macbeth in der Salzburger Felsenreitschule oder den Busonischen Faust. Mit seiner unersättlichen Neugier stieß er gewiß in einer späteren Phase seiner Laufbahn an Grenzen. Hans Sachs und »Rheingold«-Wotan bildeten solche Grenzsteine, aber überall hat er ein gewisses selbstgesetztes Niveau nicht unterschritten, ein Mindest-Niveau, das für andere kaum erreichbar war.
Und vergessen wir nicht: dieser Mann, der auf dem Liedpodium etwas Unnahbares hatte, sich keine übermäßigen Gesten und Bewegungen und kein augenzwinkerndes Einverständnis mit dem Publikum gestattete, der von vorneherein den Typus des schwitzend-anklebenden Sängerfans abstieß – dieser Mann konnte auf der Opernbühne enorm witzig sein, witzig auf eine immer geistreiche, nie plumpe Weise. Unvergeßlich in dieser Hinsicht ist sein Falstaff mit Leonard Bernstein und in der Regie von Luchino Visconti an der Wiener Staatsoper, wie auch sein Gianni Schicchi mit Wolfgang Sawallisch und Günther Rennert in München. In den siebziger Jahren schrieb der berühmte französische Theoretiker Roland Barthes einen heute noch zitierten Aufsatz über etwas, das er die Körnigkeit, die Aufgerautheit der Stimme nannte (die für ihn ein positives, klar definiertes Merkmal war) und verglich dabei seinen Lieblingsbariton, den Franzosen Charles Panzéra aus den dreißiger Jahren, mit Fischer-Dieskau, deutlich zu dessen Ungunsten, weil dessen Interpretationen von einer übertrieben expressiven Kunst geprägt seien, und die Seele den Gesang und nicht den Körper begleite. Hier irrte der große Denker, denn er verglich, ohne es zu bedenken, nicht zwei Sänger, sondern zwei Liedkulturen, die französische und die deutsche, die erstaunlich weit auseinanderliegen, weiter jedenfalls als die geographische Entfernung, und da er in der deutschen Sprache nicht zu Hause war, konnte er Fischer-Dieskaus singuläre Leistung der nahezu perfekten Wort-Ton-Verschmelzung nicht völlig verstehen und auch nicht bemerken, daß Panzéra, wenn er Schumann sang, doch deutlich hinter dem deutschen Kollegen zurückstand – erst Gérard Souzay ist es gelungen, hier aufzuschließen. Was Fischer-Dieskau auch in dieser Beziehung im Lied, aber auch in der Oper geleistet hat, kann man erst so richtig ermessen, wenn man die sprachlichen und damit auch ausdrucksbelastenden Schlampigkeiten und Schludereien eines Großteils der heutigen Gesangskunst schmerzhaft erleben muß (vor allem in der Oper, aber auch die abnehmende Liederabendkultur ist davon nicht unbetroffen). Einmal entfuhr dem Altmeister in einem Interview der befremdende Satz: »Ich habe umsonst gelebt« – und das war ein nicht völlig ernst zu nehmender, aber dennoch nicht nur komisch gemeinter Verzweiflungsschrei über den Zustand der gesanglichen Interpretation großer Musik. Um so mehr freute er sich, wenn Fachkollegen wie Thomas Hampson und Christian Gerhaher bewiesen, daß man keineswegs an der Essenz des Liedes »vorbeibelkantisieren« muß, wie er es selbst einmal ausdrückte, um den Schönklang zu bewahren. Denn das wird doch so oft vergessen, weil es offensichlich zu selbstverständlich ist: wie ungemein schön diese Stimme über viele Jahrzehnte hinweg klang.
Als Dietrich Fischer-Dieskau Abschied von der Bühne und dann auch vom Konzertpodium nahm, fiel ihm das außerordentlich schwer. Das mochte verwundern, denn er war ja nicht nur Sänger gewesen, sondern hatte schon früh neben seiner gewaltigen Karriere angefangen, Bücher zu schreiben, er hatte begonnen zu dirigieren (zu seinem Schmerz war ihm hier der große Erfolg nicht gegönnt), er malte, und dies sehr viel kompetenter als ein bloßer Hobby-maler, und er gab bis vor kurzem immer noch Meisterkurse. Und selbst in den letzten Jahren war es sein Ehrgeiz, alle Lieder, die die Kursteilnehmer vorbereitet hatten, auswendig zu können, und zur Not konnte er durchaus auch noch Phrasen vorsingen, mit einer Stimme, die weitaus stärker, ja geradezu machtvoll war, viel mehr, als es die Sprechstimme des Alters vermuten ließ. Der alte Fischer-Dieskau war, umsorgt von seiner Frau Julia Varady, ein Mensch von ausgesuchter Freundlichkeit und Zugewandtheit, und auch wenn seine Neugier auf die jeweils letzten Dummheiten des Kultur- und Musikbetriebs stark abnahm, verfolgte er mehr Aktuelles, als man annahm, war er für menschliche Nähe und Mitteilung ebenso offen wie außerordentlich dankbar.
Er sprach einmal davon, daß sich der Interpret auf keinen Fall vor den Komponisten stellen dürfe: »Wir sind Arbeiter im Weinberg des Herrn und nichts weiter«. In diesem Musik-Weinberg war die Jahrhundertgestalt Dietrich Fischer-Dieskau jedenfalls ein Vorarbeiter. Wir dürfen dankbar sein.
Dieser Nachruf erschien in leicht veränderter Form unter der Überschrift Der Wundermann in der Süddeutschen Zeitung am 19.5.2012.
Jens Malte Fischer