Immer mal wieder geht ein Raunen durch die lesende Welt, wenn ein bedeutender Literaturpreis jemandem zugesprochen wird, den, wie es dann heißt, das große Publikum nicht kennt. So geschah es im Sommer des Jahres 2009, als die Jury der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung die bedeutendste Auszeichnung des Landes, den Georg-Büchner-Preis, Walter Kappacher verlieh. Aber wer sagt denn, dass die wirklich gewichtigen Autoren rundum bekannt oder gar berühmt sein müssen? Obwohl er bereits 2004 mit dem Hermann-Lenz-Preis ausgezeichnet worden war, blieb Kappacher bis zum Büchner-Preis in diesem Sinne kaum bemerkt, aber in einem engeren Kreis der Kenner wusste man seit langem von dem ganz ungewöhnlichen Rang seiner Prosa, eine Prosa, „die vielleicht sogar die Stifterschen Entschleunigungsexerzitien übertrifft“, wie Iris Radisch in der „Zeit“ die Juryentscheidung begrüßte, „denn mehr noch als im ‚Nachsommer‘ werden alle Spuren einer ästhetischen Programmatik (und auch jeder Stolz darauf) hier vollständig verwischt.“ Die Verwandtschaft mit dem großen Stillen der österreichischen Erzählkunst geht tatsächlich weit hinaus über landsmannschaftliche Nähe.
Kappacher, geboren am 24. Oktober 1938 in Salzburg, in Salzburg am 24. Mai 2024 gestorben, war ein ungewöhnlicher Literat, sogar im Metier der Literatur, wo das Ungewöhnliche die Regel sein sollte. Für einen späten Nachfahren Adalbert Stifters waren bereits seine Anfänge überraschend. Entgegen den väterlichen Wünschen begeisterte der Jüngling sich für eher lautstarke Motorradrennen und begann eine Lehre als Motorradmechaniker; davon erzählt „Die Werkstatt“, sein zweiter Roman, der 1975 erschien. Erst mit vierzig Jahren wagte er den Sprung in die Existenz als freier Autor. Von nun an erschienen regelmäßig Romane, darunter so bemerkenswerte wie „Silberpfeile“ (2000), den Karl-Markus Gauß so kommentierte: „Kappacher hat ein Buch über dröhnende Motoren, ratternde Maschinen, über Autos und Raketen, über Rennstrecken und eine explodierende Waffenfabrik geschrieben. Wie macht er das nur, dass es wiederum ein Buch geworden ist, in dem man die Stille zu hören meint?“ Treffender konnte man sie wohl nicht beschreiben, die Kappachersche Ambivalenz, die sich dann sogleich im Kontrast zu dem folgenden, einem seiner schönsten Bücher wenige Jahre später zeigte: „Selina oder das andere Leben“ (2005) ist ein Roman, in dem fast nichts geschieht – aber eben auch nur fast nichts, denn die Kontemplation einer Landschaft, hier der Toscana, gehört zu jenen „stillen Sensationen“, die seine Verehrer immer bei Kappacher suchen und fanden.
Seine beiden letzten Romane – „Der Fliegenpalast“ (2009) und „Land der roten Steine“ (2012) – zeigen noch einmal exemplarisch seine zwei Gesichter. Erscheint „Der Fliegenpalast“ als ein fast geisterhaftes Schattenspiel um den alternden, zweifelnden, zuweilen verzweifelnden Hugo von Hofmannsthal auf Kur im altösterreichischen Bad Fusch, in den Salzburger Bergen, so ist „Land der roten Steine“ nahezu das Gegenteil, ein Road-Movie mit allem, was dazugehört, Abenteurer und amerikanische Canyons, sogar der Jeep, als spätes Echo der Begeisterung für Motorräder und Silberpfeile.
Danach ist Walter Kappacher zwar nicht verstummt, aber er machte sich immer rarer, publizierte Prosa, Erinnerungen, aber keine Romane mehr, und so trat er Schritt um Schritt aus dem Rampenlicht des Büchner-Preises wieder zurück in den ihm einzig angemessenen Halbschatten des verborgenen Autors für wenige. Bei den seltener werdenden Begegnungen der letzten Jahre traf man noch immer auf den Menschen, der er stets gewesen war, ruhig aber schnell entflammt, wenn etwas im Gespräch ihn wirklich betraf, immer aufnahmefähig, aufnahmebereit, und wenn ihm eines ganz und gar fern lag, dann die Prätention des bedeutenden Büchner-Preisträgers. Diese späte, unerwartete Auszeichnung hat ihm viel, sehr viel bedeutet, doch verändert hat sie ihn nicht. So bleibt er seinen Lesern in Erinnerung, eine noble, tief sympathische und dabei immer in höflicher Distanz verharrende Gestalt: Wer ihn gekannt hat, wird ihn nicht vergessen.
Wolfgang Matz