Die konservativ gesinnte Kunststadt München ist im Jahrhundert der Moderne zweimal durch kleine Gruppen junger Maler mit avantgardistischen Bewegungen von europäischem Rang konfrontiert worden. Die erste Begegnung mit revolutionär neuen Ideen erlebte die Stadt in den wenigen Jahren, in denen der Blaue Reiter über die bayrischen Felder galoppierte.
Den zweiten Aufstand gegen die Stilvorgaben der Münchner Akademie, aber mehr noch gegen die Zwänge des allmählich mächtig werdenden Kunstmarkts und gegen die Alleinherrschaft des Informel, also des Zeitstils der Abstraktion, unternahmen in den späten fünfziger Jahren ein paar Schüler der Akademie, die sich nach dem Vorbild der kurz vorher in Paris gegründeten Gruppe Cobra in München unter den Namen Spur und Wir zu kleinen Gruppen zusammentaten. Sie verfaßten mutige, aber wirkungslose Manifeste und erprobten als Maler und Zeichner neue Wege.
Helmut Rieger war eine der zentralen Figuren dieser Bewegung. Als erster hat er sich auf die frei kreisende barocke Deckenmalerei als mögliches Vorbild berufen und deren dynamische Inbesitznahme der Malfläche durch figürliche Elemente seinerseits auf die Leinwand übertragen und dort mit eigenen Farben und Bildern gefüllt. Auch den Leiberwust auf dem »Höllensturz« von Rubens hat er als Anregung aufgenommen: Es entstand ein wildes Knäuel von Formen, die sich körperlich, ja partienweise sogar anatomisch deuten lassen, in ihrer fahlen Farbigkeit aber auch als Konvolut frei taumelnder Farbgesten genossen werden können.
Waren es anfangs noch gedämpfte bis düstere Farben und nervös ineinander verkeilte Flächen und Striche, in denen das Personal antiker Mythen und biblischer Geschichten heranwuchs, so hellten sich, wie auch bei den Kollegen in der Gruppe, um 1964 die Farben deutlich auf. Auch das Weiß der Grundierung kam nun oft als Kontrastmittel zum Einsatz; es hob die Farben fast körperlich ab vom Malgrund. Und so war es dann nur noch ein Schritt bis zu den dreidimensionalen »Antiobjekten«, bei denen ausgeschnittene Farbscheiben und - bänder, ineinander verschlungen, ein Relief vor dem Malgrund bildeten.
Die siebziger Jahre haben dann einen tiefen Einschnitt im Werk von Helmut Rieger hinterlassen. Eine rätselhafte Krankheit, die den Maler mehr als ein Jahr ans Krankenbett fesselte, erzwang neue Arbeitsmethoden. Zeichnung und Skulptur traten nun neben die Malerei. Und das physische und seelische Leiden ließ die Farben ins Dunkel abstürzen. Fast nur noch Rot und Gelb konnten sich im großartigen Spätwerk gegen das dominierende Schwarz durchsetzen, das nun die gesamte Atemluft einnahm und die Figuren des Mythos mit schroffen Gesten umriß. Am 27. August ist Helmut Rieger kurz vor seinem 83. Geburtstag in München gestorben.
Gottfried Knapp