Abteilung Darstellende Kunst: Hans-Joachim Ruckhäberle - Ordentliches Mitglied seit 2005
geb. 6. September 1947 in Heidenheim an der Brenz – gest. 10. April 2017 in München
Der Tod von Hans-Joachim Ruckhäberle kommt überraschend. Als ich ihn das letzte Mal sah, erzählte er von seinen Plänen und Projekten, von Opern, die er vorbereitete, von seiner Arbeit als Festspieldramaturg und seinen Aktivitäten in der Akademie der Schönen Künste in München.
Stets war er den Inhalten verpflichtet und besaß die seltene Gabe, jedes Theaterstück auf seine gedankliche Grundstruktur zurückzuführen, ein Skelett herauszuschälen, auf dem dann Regisseure, Schauspieler und Bühnenbildner ihre Inszenierungen aufbauen konnten, ihre Bewegungen, ihre Geschichten erfinden durften. Und so verdankte jede Figur, jeder Satz, jedes Kostüm ihm den entsprechenden Kontext. Unter seinem Schutz blieb der Dichter stets der Dichter in seiner ihm eigenen Sprache. Mit dieser unverwechselbaren Arbeits- und Denkweise als Chefdramaturg prägte Ruckhäberle seit 1983 erst die Münchner Kammerspiele und dann bis 2011 das Residenztheater.
Es hat mich, der mit ihm über zwanzig Jahre lang zusammengearbeitet hat, stets glücklich gemacht, von seiner Klugheit zu profitieren. Im Dialog mit ihm habe ich die Geheimnisse der großen Stücke oft überhaupt erst kennengelernt. Er konnte meine Phantasie durch Gespräche so anregen, daß ich gleich tausend Impulse entwickelte, wie ich mir meine entsprechenden Rollen erarbeiten könnte. Das Wichtigste für einen Schauspieler sind doch immer die Energien, die angeregt und freigesetzt werden, damit man Lust hat, zuspielen, eigene innere Räume zu kreieren beziehungsweise zu besetzen. Der Schauspieler wird durch Gedanken angestoßen und setzt sich erst dadurch in Bewegung. Er ist abhängig von einem begeisternden Geist. So einer war Hans-Joachim Ruckhäberle.
Mit windschiefem Schritt erschien er auf den Proben, mit einer gedankenschweren Körperlichkeit, scheinbar in sich gekehrt, aber wach wie ein Raubtier, immer sprungbereit, wenn Gefahren im Textdickicht auftauchten. Äußerst empfindlich reagierte er auf gedankliche Nachlässigkeiten oder schnell erkaufte oder unbedachte Äußerungen. Immer war er geduldig, aber wenn Grenzen überschritten wurden, war seine Reaktion scharf und niederschmetternd, und man mußte sich in Acht nehmen. Doch zu guter Letzt gab es immer eine Umarmung, eine Geste der Solidarität, wie sie nur unter Theaterleuten möglich sein kann. Eine Leidenschaft, die wir geteilt haben, ist die Bewunderung für Samuel Beckett. Über ihn konnten wir uns nächtelang austauschen und streiten. Seine letzte Dramaturgie machte er im vergangenen Jahr für »Endspiel«, eine Inszenierung von Dieter Dorn, die noch immer am Wiener Burgtheater gezeigt wird.
Die von Ruckhäberle konzipierten Spielpläne standen im gesellschaftlichen und künstlerischen Kontext der Zeit und machten den Versuch, allen Anfragen und Weiterentwicklungen eines fordernden Ensembles gerecht zu werden. Neben der Arbeit mit den Theaterleuten hat er seine Disziplin erweitert und an der Kunsthochschule in Weißensee unterrichtet.
Daneben war er ein Mensch, der Freundschaften pflegte, gesellig war und meist ein homerisches Schmunzeln im Gesicht hatte, das man nicht leicht durchschauen konnte. Er war immer da, immer anwesend und ansprechbar. Das Theater, so wie ich es verstehe und liebe, ist ohne Menschen wie Hans-Joachim Ruckhäberle schwer vorstellbar. Die Jahre als Chefdramaturg am Bayerischen Staatsschauspiel waren reich. Er hielt das Theater inhaltlich und künstlerisch zusammen, eröffnete den Künstlern eine Perspektive, forderte und faszinierte das Publikum. Er, der jetzt im Alter von neunundsechzig Jahren verstorben ist, hat zusammen mit Dieter Dorn, Michael Wachsmann und Jürgen Rose die Münchner Kammerspiele zu dem gemacht, was sie jahrzehntelang waren: zum anspruchsvollsten Ensembletheater der Republik.
Stefan Hunstein
Dieser Nachruf wurde vorab in der FAZ vom 13.4.2017 veröffentlicht.