Heute, am 14. Todestag von Horst Bienek, der bis in sein Todesjahr 1990 die Literatur-Abteilung dieser Akademie leitete, gedenken wir dieses großen Schriftstellers und liebenswerten Menschen mit einem Konzert und einer Lesung. Eigentlich, wird mancher von Ihnen, meine Damen und Herren, denken, wäre ja zu diesem Termin, wie in den vergangenen Jahren, die Verleihung des Bienek-Preises für Lyrik fällig, durch dessen testamentarische Stiftung der Dichter seine enge Verbundenheit mit unserer Akademie zum Ausdruck brachte. Sie alle wissen, daß auch ein geschickt angelegtes Kapital in der derzeitigen finanziellen Situation nur geringe Erträge abwirft; der Hauptpreis würde also bei einer jährlichen Verleihung allzu bescheiden ausfallen, vom Förderpreis zu schweigen. Wir haben uns also entschlossen, einstweilen den Bienek-Preis nur jedes zweite Jahr zu verleihen; die Satzung läßt es zu. Auch der Gedanke, wir könnten im nächsten Jahr, dem 15. Todestag und 75. Geburtstag des Preisstifters recht kümmerlich dastehen, spielte bei dieser Entscheidung eine Rolle. So sind wir auf die heutige Veranstaltung verfallen, die ja Horst Bienek noch deutlicher in den Mittelpunkt rückt, als es die Verleihung eines Preises in seinem Namen tun kann. Durch die Grande Dame des deutschen Theaters: durch Doris Schade, und die Vertonungen des 1995 verstorbenen großen Komponisten Günter Bialas bekommt dieser Abend einen Glanz, an dem Bienek seine Freude gehabt hätte. Bialas war dem Dichter schon durch seine oberschlesische Herkunft verbunden. Ich will Ihnen doch vorlesen, was Bienek über einen Besuch bei Bialas 1982 notierte:
„Heute, Sonntag, draußen bei Bialas. Lebhaftes Gespräch über seine Kindheit in der Pleßer-Gegend – das sollte er eigentlich mal aufschreiben. Über Priebergs Musik im NS-Staat diskutiert. Über die Versuchungen der Macht, des Erfolgs, des Ruhms und die Korrumpierung eines jungen Künstlers. Dazu sagte B. (er war 1933 23 Jahre alt): Man konnte bei den Nazis nicht mitmachen, weil man gerade als junger Musiker schon 1933 gesehn hat, was sie mit den Juden machten, und wir alle hatten ja Freunde unter ihnen, das Musikleben war ohne deren Begabungen doch gar nicht zu denken …“
Diese Aufzeichnung findet sich in Bieneks Buch Beschreibung einer Provinz, das 1983, ein Jahr nach dem Erscheinen von Erde und Feuer, dem abschließenden Band seiner Schlesien-Tetralogie, herauskam. Als Doris Schade mich vor mehr als anderthalb Jahren (ja, eine so lange Inkubationszeit haben manche unserer Veranstaltungen!) nach geeigneten Bienek-Texten fragte, geriet ich an dieses Büchlein, dessen Lektüre mich faszinierte. Besser als aus dem Gesamtwerk einen Fleckerlteppich herauszuspinnen, Sie, meine Damen und Herren, mit einem Cocktail und Häppchen zu verköstigen, schien es mir, der Lesung ein einziges Buch zugrunde zu legen – zumal dieses Buch wie kein zweites den Schriftsteller Horst Bienek am Werk zeigt und ihn zugleich als Person vor Augen stellt. Denn die während der zehnjährigen Arbeit an den vier Romanen: Die erste Polka von 1975, Septemberlicht von 1977, Zeit ohne Glocken (1979) und Erde und Feuer (1982) entstandenen Aufzeichnungen halten nicht nur die Umstände der Genese von Bieneks Hauptwerk, sondern auch wichtige biographische Begleitumstände fest. Im Fall dieses Autors sind ohnehin Leben und Werk besonders eng verflochten. „Literatur wird Leben, und Leben wird Literatur“, schrieb Heinz Friedrich in seinem hinreißenden Nachruf auf den Freund am 10. Dezember 1990 in der Süddeutschen Zeitung. „So entstehen die Werke, die bleiben.“
Wir erleben die – fast meine ich, sagen zu können: exemplarische – Genese eines vierbändigen epischen Werks, eines, mit Thomas Mann zu sprechen, „figurenreichen, so vielerlei Menschenschicksal im Schatten einer Idee versammelnden Romanteppichs“. Die „eine Idee“ ist die Rekonstruktion einer Provinz, das Requiem auf Oberschlesien mit dem Zentrum Gleiwitz, der Heimat des Autors; erzählt wird ihre Geschichte zwischen 1933 und 1945, also eine Untergangsgeschichte. Bienek legt einen hochinteressanten Werkstattbericht vor, durchaus vergleichbar mit dem „Roman eines Romans“, den der Verfasser des Doktor Faustus seinem opus maximum folgen ließ. Herausgesponnen wird das Riesengewebe des Romans aus dem Faden eines langen Gedichts, das sieben Jahre vor dem Beginn der Niederschrift der Ersten Polka, im März 1965, entstand: der Gleiwitzer Kindheit. Wie immer ist der Anfang unwillkürlich, das Gedicht meldet sich ungerufen, „es war“, schreibt Bienek, „fast wie ein Überfall“. Bienek hat nach der literarischen Verarbeitung seiner traumatischen Jugenderfahrung – er war mit einundzwanzig Jahren in Ostberlin beim Verteilen von Flugblättern gegen das sozialistische Regime verhaftet, der russischen Besatzung überstellt und von dieser zu 25 Jahren Zwangsarbeit verurteilt worden und verbrachte bis zu seiner Amnestierung vier Jahre im berüchtigten Lager Workuta im Nordural – sein neues Thema gefunden: seine Kindheit, ihre regionale, zugleich überregionale und ihre zeitgeschichtliche Dimension. Die erste Werk-Epoche mit dem zwischen 1957 und 1968 erschienenen Titeln Traumbuch eines Gefangenen, Nachtstücke, Was war was ist und Die Zelle war abgeschlossen. Das waren Gedichte und eine stark lyrische, ausgesprochen monologische Prosa. Jetzt der Sprung in die Epik, der seinerseits seine Energie aus einem Gedicht bezog. „Ich komme von der Lyrik her“, sagte Bienek in seiner Dankrede bei der Verleihung des Bremer Literaturpreises, den er für Die Zelle erhielt, „ich komme von der Lyrik her, der man stets etwas unbestimmt Gefühlvolles nachsagt – große Lyrik, und hier kann ich Brecht ebenso wie Benn zitieren, hat es immer mit der Genauigkeit zu tun.“
Und so lesen wir denn im Werkstattbericht Beschreibung einer Provinz von ungemein gründlichen Recherchen, die der auf exakte Vergegenwärtigung einer vergangenen Welt versessene Chronist anstellt; denn nur auf der Basis einer verläßlichen Abbildung von Wirklichkeit, die sich keine bequemen poetischen Freiheiten erlaubt, läßt sich der Überbau dichterischer Gestaltung errichten, die wir dann mit Recht als „poetischen Realismus“ bezeichnen können. Und „poetischer Realismus“ war es, was Bienek in seinem Romanprojekt leisten wollte; Faulkner, Thomas Wolfe, Carson McCullers, auch der frühe Truman Capote lieferten Vorbilder. Im Institut für Zeitgeschichte las Bienek die Zeitungen, die in den Monaten vor dem Kriegsausbruch, vor dem fingierten Überfall auf den Gleiwitzer Rundfunksender erschienen, er fragte in Offenbach an, was für ein Wetter damals in dieser Region herrschte, er machte sich kundig in der Geschichte Oberschlesiens und besorgte sich Literatur über die polnischen Elemente in der Sprache der Oberschlesier. Und eine aus seiner Heimat stammende Blumenfrau mußte ihm sagen, welche Blumen am 23. April 1943 dort schon geblüht haben, am Tag, an dem der dritte Roman Zeit ohne Glocken spielt.
Wir erfahren von den inneren Widerständen eines Schriftstellers beim Schreiben, den Umwegen, Ausflüchten, Ausweichmanövern, mit denen er dieser entsetzlich schweren, immerzu vom Scheitern bedrohten Aufgabe sich zu entziehen sucht, den ausweglos scheinenden Blockaden und den Mitteln, die zu ihrer Überwindung führen. Wir lesen aber auch vom Rausch der Produktivität, vom Glück des Gelingens, vom Lebensüberschwang nach langer asketischer Arbeit am Schreibtisch, der zur Mönchszelle des ausschließlich seinem Werk Verschriebenen wird.
Die selbstgewählte Isolation (aber ist sie wirklich selbstgewählt?) des Schriftstellers führte aber keineswegs zu exklusiver Egozentrik. Auf sehr eindrucksvolle Weise lassen sich bei der Lektüre der Beschreibung einer Provinz die Schwankungen verfolgen, die sich aus der Spannung zwischen der von einem großen Schreibprojekt erbarmungslos geforderten Zurückgezogenheit des Autors und der engagierten Teilnahme an Menschen und Ereignissen der jenseits der Schreibzelle liegenden Welt ergeben. Wir haben es gewissermaßen mit dem von heftigen Ausschlägen gekennzeichneten Elektrokardiogramm eines ungewöhnlich werkbesessenen und ebenso ungewöhnlich dem Leben, den Mitmenschen, der Politik zugewandten Mannes zu tun. Horst Bieneks bis zur Selbstaufopferung gehende Hilfsbereitschaft galt vor allem den Verfolgten, den Dissidenten, den Exilierten. Eine Notiz aus unserem Buch lautet: „Wissenschaftler halten Vorträge, schreiben Aufsätze, ja Bücher über das Exil, Millionen werden ausgegeben, Stiftungen gegründet, Zeitschriften herausgegeben, Kongresse veranstaltet, Verlage bestreiten ihre Programme damit – heute, dreißig Jahre danach. Und wer denkt daran, daß das Elend, welches hier erforscht wird (und was Schriftsteller wie Max Herrmann-Neisse, Joseph Roth, Toller, Tucholsky in den Tod getrieben hat), heute das neue Exil genauso betrifft. Es sind nicht weniger Schriftsteller und Künstler als damals, in den dreißiger Jahren, eher mehr, und die Not ist nicht geringer. Sie schreiben russisch, tschechisch, ungarisch, rumänisch, polnisch, bulgarisch, deutsch. – Sie leben mitten unter uns.“
Unsere Akademie spielte für Bienek in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle: Er veranlaßte die Zuwahl von verfolgten oder doch gefährdeten Autoren als korrespondierende Mitglieder, die Wahl z. B. von Zbigniew Herbert, Tadeusz Rózewicz, Wislawa Szymborska, von Victor Nekrassov, Andrej Sinjawski, Alexander Solschenizyn, Andrej Wosnessenskij, Wladimir Woinowitsch, von Miroslav Holub, Ota Filip (dessen korrespondierende später in eine ordentliche Mitgliedschaft umgewandelt wurde). Er organisierte Lesungen mit diesen Autoren, einen Exilkongreß („Schon lange nicht mehr“, vermerkt er in der Beschreibung einer Provinz „sind so viele und bedeutsame Köpfe des Ost-Exils hierzulande zusammengekommen. […] Hingegen haben von den deutschen Autoren die meisten abgesagt. […] Ich kann mich des Gedankens nicht erwehren, einige von ihnen fürchten wohl, wenn sie auf der Teilnehmer-Liste eines solchen Exilkongresses auftauchen, nicht mehr in Rußland oder in einem der Ostblockländer übersetzt zu werden – oder in der DDR nicht zu erscheinen.“) Auch die Einrichtung eines (inzwischen eingestellten, aber doch eine Reihe bedeutender Preisträger aufweisenden) Exilpreises der Akademie geht auf Bienek zurück. Sollte einmal jemand die Geschichte unserer Akademie schreiben, wird diese in erster Linie Horst Bienek zu verdankende Ausrichtung auf politisch verfolgte Autoren zu ihren Ruhmesblättern gehören.
Ein Solidaritätsabend für Polen, den Bienek am 19. Januar 1982 hier in diesem Saal organisierte, fällt gerade noch in den für den Werkstattbericht einschlägigen Zeitraum. Nach Ausrufung des Kriegszustands im Dezember 1981 heißt es: „Kann nicht weiter an meinem Roman arbeiten, wenn in Polen solche Dinge geschehen. Spüre, wie mich diese Ereignisse aufwühlen … Liegt das nur daran, weil Polen uns so nahe ist – oder weil ich in diesem Land so starke emotionale Wurzeln habe?“
Zu den inneren Widerständen beim Schreiben kamen also noch massive äußere, zeitgeschichtliche. Aber dann: „Heute, Freitag, 23. April, [1982], das letzte Kapitel. Es ist geschafft! Ich danke Gott. Ich danke dem Himmel. Ich bin wie befreit.“ Auf der letzten Seite der Aufzeichnungen findet sich ein Zitat aus dem Cherubinischen Wandersmann des Angelus Silesius, Bieneks schlesischem Landsmann: „Freund, es ist auch genug. Im Fall du mehr willst lesen, so geh und werde selbst die Schrift und selbst das Wesen.“ In mancher Hinsicht war auch Horst Bienek so etwas wie ein Angelus Silesius.
Albert von Schirnding