Europa, diese Klage ist immer wieder vernehmbar, sei lange schon ein bloß noch ökonomisches und administratives Unternehmen, aber eben keine kulturelle und das hieße doch auch: geschichtliche Idee. Denn wie sollte so etwas wie eine europäische Identität anders zu denken sein als über die gemeinsame Geschichte, eine Geschichte aus Kriegen und Katastrophen, ideologischen Trennungen, machtpolitischen Teilungen und dann doch wieder Überwindung von Trennung und Teilung. Es hat nicht so viele gegeben unter den Intellektuellen des zwanzigsten Jahrhunderts, die sich den grandiosen ideologischen Schaukämpfen verweigerten und festhielten an jener Idee von Europa, die mehr war und vor allem anderes als Politik. Einer von ihnen, und einer der bedeutendsten, war György Konrád, der am 13. September 2019 in Budapest gestorben ist. Damit geht ein weiterer und einer der letzten jener großen Generation, die das europäische Schisma zwischen Weltkriegen und Eisernem Vorhang am eigenen Leibe erleiden mußten, aber gerade deshalb umso stärker daran teilhatten, daß die Diktatur schließlich zerfiel. Doch zu den tragischen Momenten eines solchen Lebens zählt es auch, daß einer in den letzten Jahren zusehen mußte, wie der autoritäre, aggressive Nationalismus plötzlich wieder an Attraktivität gewann und seinerseits das zunichtezumachen droht, was die Erbschaft dieser großen Generation gewesen ist.
György Konrád wurde im europäischen Schicksalsjahr 1933 geboren, am 2. April, im ungarischen Debrecen. Aufgewachsen ist er in der Provinz, in Berettyóújfalu, wo der Vater eine Eisenwarenhandlung betrieb. Daß die ganze jüdische Familie, Geschwister, Mutter und Vater, den Krieg und die deutsche Besatzung überlebten, grenzt an ein Wunder. In dem autobiografischen Roman Glück hat Konrád davon erzählt: von der Deportation der Eltern, der Flucht der Kinder nach Budapest, dem Überleben im Versteck, der Rückkehr der Eltern aus den deutschen Lagern. Sein Geschäft allerdings verlor der Vater im Nachkriegsungarn an den sozialistischen Staat. Wie so manchen Künstler oder Intellektuellen aus dem östlichen Mitteleuropa immunisierten diese Jugenderfahrungen ihn ein für allemal gegen totalitäre Versuchungen, und als mit der blutigen Unterdrückung des ungarischen Aufstands 1956 der imperiale Anspruch der Sowjetunion unübersehbar wurde, war Konrád bereits dreiundzwanzig. Trotzdem, als Autor hat er spät debütiert, 1969 mit Der Besucher, dem unbequemen Roman über etwas, was es eigentlich nicht geben durfte, die Abgehängten und Ausgeschlossenen in der sozialistischen Gesellschaft. Die üblichen Stationen blieben nicht aus, Verhaftung, Publikationsverbote, und dagegen die wachsende Resonanz im Westen.
In deutscher Sprache hatte Konrád schon bald eine beständige Leserschaft. Bereits lange vor 1989 hielt er sich besonders gern in West-Berlin auf, jener liebenswerten, etwas künstlichen Enklave im tiefen Osten, die eingemauert, wie sie war, so etwas wie einen Vorposten der Freiheit bildete, zugleich weltfremde Provinzgroßstadt und Brennpunkt der weltpolitischen Konfrontation. Daß György Konrád dann 1997 zum Präsidenten der mehr oder weniger wiedervereinigten Berliner Akademie der Künste gewählt wurde und es bis 2003 blieb, war folgerichtig und für die Akademie ein Glücksfall, denn kaum ein anderer hätte es vermocht, allein durch seine Person das Auseinanderfallen der mehr denn je im Ost-West-Dilemma feststeckenden Institution zu verhindern. Seine Fähigkeit zur Vermittlung war jedoch alles andere als laue Unentschiedenheit; im Gegenteil, Konrád ging keinem Streit aus dem Weg, und unvergeßlich ist sein massiver Protest gegen das Berliner Holocaust-Mahnmal als »gnadenloser und didaktischer Kitsch«. Unvergessen aber auch gerade hier die so seltene Fähigkeit, eigene Meinungen zu korrigieren: »Den Besucher ratlos zurückzulassen, das ist Sache des Werks. Ein kleingläubiger, einfältiger Kritiker bin ich gewesen. Der Künstler hat recht.«
Der Künstler hat recht, das ist vielleicht die Summe von Konráds Werk Die Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts hat dieses Leben so sehr bestimmt, hat den »Antipolitiker« so sehr in die Politik gezwungen, daß gerade seine künstlerische Leistung immer wieder in den Schatten geriet. Jetzt, da seine Stimme, die allzu oft den Forderungen des Tages gehorchen mußte, verstummt ist, kommt auch der Augenblick, sich wieder seinem eindrucksvollen Romanwerk zuzuwenden: von Der Besucher und Der Komplize über Der Nachlass bis hin zum späten Buch Kalligaro. György Konrád fehlt schon heute, doch dieses Werk wird bleiben, so lange es noch eine Idee von Europa gibt.
Wolfgang Matz