Höchste künstlerische Kompetenz und höchster moralischer Anspruch – bei nur sehr wenigen großen Menschen der Musikgeschichte verbindet sich beides. Einer von ihnen war Friedrich Cerha.
Was immer er schrieb – er schrieb in verschiedenen Sprachen –, ist meisterhaft geschrieben.
In den Orchesterwerken Spiegel befindet sich Cerha an der Spitze der avantgardistischen Musikentwicklung. Aber er stellt seine neu gefundenen Massestrukturen nicht bloß liebevoll hin, er geht darüber hinaus: Er lässt sie eine innere Dynamik entwickeln, um sich zu verhalten, als würden sie leben. Die Cluster werden zu Klangorganismen, die durch das Orchester wandern.
Die Keintate ist aus scheinbar trivialen Elementen gebildet – sowohl hinsichtlich der musikalischen als auch der textlichen Mittel. Damit lässt Cerha ein expressives Drama entstehen – das Drama eines sorgfältig komponierten langsamen Prozesses der Demaskierung, des allmählichen Entfernens des beschönigenden oberflächlichen Scheins, um das darunter liegende Grauen erkennbar zu machen.
Unvergesslich ist die Uraufführung der Keintate: Das schallende Gelächter, mit dem anfangs wir alle, die wir zuhörten, auf die virtuos gesetzten Witze reagierten, verstummte allmählich. Es blieb uns in der Kehle stecken. Im letzten Drittel herrschte eine beklemmende Stille im Publikumsraum.
In Netzwerk erträumt Cerha eine Oper, in der die Inhalte der gesungenen Worte bedeutungslos werden – ein Drama der Szene und der Musik.
Im Gegensatz dazu sind Baal und Der Rattenfänger traditionelle „große Opern“ – in einer komplexen Musiksprache, die alles, was erklingt, in den Dienst des Musikdramas stellt. Und deren Radikalität noch auf die Würdigung durch Musikwissenschaft und Kritik wartet.
Der 90-Jährige schuf ein Schlagwerkkonzert, das in seinem Sturm und in seinem Drang die Utopie ewiger Jugend – wenigstens in der Kunst – verwirklicht.
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Die Liste lässt sich beliebig verlängern.
„Josquin ist der noten meister, die habens müssen machen, wie er wolt; die anderen Sangmeister müssens machen, wie es die noten haben wöllen.”
Was Martin Luther vor einem halben Jahrtausend über Josquin sagte, gilt heute für Friedrich Cerha.
Moderner ausgedrückt: Cerha war fähig, INNERHALB von Musik zu DENKEN. Er begnügte sich weder damit, emotional das innerlich Gehörte als „Inspiration“ wiederzugeben, noch baute er seine Musik auf abstrakten notationsbedingten Phänomenen auf. Man merkt seiner Musik an, wie glasklar er seine Vorstellungen analysiert hatte – und wie er sie dann aus rein musikalischen Prinzipien weiterentwickelte. Die Begriffe „organisch“ und „logisch“ verschmelzen in seiner Musik zu einer Einheit.
Der junge Friedrich Cerha wurde in die Wehrmacht gezwungen. Er entschied sich, zu desertieren, wurde durch einen Zufall nochmals eingezogen und desertierte ein zweites Mal. Er überlebte in den Tiroler Alpen. Die Erfahrung, FREI zu sein (und frei von dem Zwang zu sein, an einem gigantischen Verbrechen mitmachen zu müssen), war ihm wichtiger als die Angst, zu erfrieren, zu verhungern oder entdeckt und hingerichtet zu werden.
Diese radikale Unbedingtheit, das als notwendig Erkannte zu realisieren – koste es, was es wolle –, wirkt auch in Friedrich Cerhas Kunst.
Als Höchstbegabter widerstand er den Versuchungen des konservativen Wiener Kulturlebens der 50er Jahre – und ermöglichte die Gründung eines Spezialensembles für Neue Musik.
Den gigantischen Werkzyklus Spiegel – einschließlich umfangreicher Vorstudien – entwickelte er ohne jede Hoffnung auf eine Aufführung durch ein Orchester.
Nachdem ihm bewusst geworden war, dass Alban Bergs Idee der Oper Lulu durch die zweiaktige Aufführung substantiell beschädigt wurde, besorgte er klammheimlich Kopien der Manuskripte und vollendete in jahrelanger Arbeit das Werk, Alban Bergs Skizzen präzise übertragend.
Das alles tat er allein aus innerem Antrieb, im „Nebenberuf“, quasi als „Freizeitgestaltung“.
Beharrlich ging er seine Wege, unkorrumpierbar. Ohne sich um das Urteil der sogenannten „Fachleute“ zu kümmern. Und ohne auf die strukturellen Einschränkungen des Orchester- und Opernbetriebs Rücksicht zu nehmen. Immer stand seine Kunst für ihn im Mittelpunkt seines Lebens. Bedingungslos.
Er ging diese Wege zusammen mit seiner wunderbaren Frau Gertraud Cerha, die selbst eine höchst kompetente Musikerin ist. Gemeinsam bildeten sie ein Monument der künstlerischen Wahrhaftigkeit.
Friedrich Cerha ist viel zu früh gestorben.
Seine Musik aber lebt weiter. Oder besser gesagt: nicht „seine Musik“, sondern die „unendlich vielfältigen, reichen Musiken“, die er uns hinterlassen hat.
In Trauer und Dankbarkeit,
Georg Friedrich Haas