Werner Wirsing war schon 27 Jahre alt, als er als Kriegsheimkehrer in München ein Architekturstudium beginnen konnte. Aber von da an steuerte er geradlinig auf sein Ziel zu. Schon 1948, also noch während seines Studiums, eröffnete er mit seiner Frau Grete ein eigenes Architekturbüro. Und im gleichen Jahr übernahm er die Leitung des Baubüros des Bayerischen Jugendsozialwerks. In dieser Funktion hat er eine Reihe kleiner Wunder vollbracht.
Wie kann man die Grundfunktionen des Wohnens so ineinander flechten, daß bei einem Neubau möglichst wenig Raum verbraucht und möglichst wenig Material verschwendet wird? Mit solchen Gedanken hat sich der verspätete Architektur-Student und mutige Jung-Architekt Werner Wirsing im zerstörten München beschäftigt, als er den Auftrag bekam, für ein geplantes Studenten- und Lehrlingswohnheim einen Architekturentwurf zu liefern. Für das leer geräumte Gelände am Anfang der Heßstraße schlug er einen im Grundriß H-förmigen zweigeschossigen Bau mit zwei parallelen Zimmertrakten und einem elegant aufgeständerten Verbindungsbau vor. Dieses Gebäude ließ sich auf einfachste Weise so verdoppeln, daß zwischen den beiden H-förmigen Trakten ein geräumiger Garteninnenhof entstand.
Heute steht die harmonisch in den Massmannpark eingebettete Wohnheimsiedlung als Pionierbau des modernen, aber extrem sparsamen sozialen Bauens unter Denkmalschutz. Und sein Schöpfer gilt als der wichtigste Experimentator auf dem Gebiet des studentischen Wohnens. In all den von ihm entworfenen Studentenwohnheimen und Bildungsbauten hat er auf die jeweilige stadträumliche oder landschaftliche Situation mit individuellen Ideen reagiert. So dürften auch seine musische Bildungsstätte in Remscheid und das gemeinsam mit Johannes Ludwig entworfene Jugendzentrum Frankenhof in Erlangen irgendwann unter Denkmalschutz gestellt werden.
Mit ähnlicher Konsequenz hat sich Wirsing bei den Wohnbauten für befreundete Künstler auf einfache Formen und schlichte Materialien konzentriert. Als er bei Glonn ein Haus für den Komponisten Günter Bialas und eines für den Bildhauer Blasius Gerg auf den oberen Rand eines Wiesentales setzen durfte, hat er Bauten mit ländlich flachem Satteldach vorgeschlagen, die aus vorgefertigten Stahlstützen, daraufgelegten zierlichen Fachwerkbindern und einheitlichen Wandtafeln aus Lärchenholz zusammengesetzt waren.
Beim Haus für den Komponisten Günter Bialas und seine Frau, eine Sängerin, liegen die beiden parallel geführten leichten Riegel längs der Hangkante. An den entfernten Enden der beiden Trakte, des Damen- und des Herrenflügels, befindet sich je ein Musikzimmer, in dem der Komponist und die Sängerin ungestört nebeneinander arbeiten können.
Am eindrucksvollsten hat Werner Wirsing die Funktionen eines Wohnhauses aber ineinandergeflochten, als er den Auftrag bekam, die Bauten für das Frauendorf der Olympischen Spiele 1972 in München zu entwerfen. Fest stand damals nur, daß die Häuser dieses Dorfteils, der ja direkt an den entstehenden Park grenzte, im Gegensatz zum Männerdorf flach sein sollten. Und da Wirsing jeder der Olympiateilnehmerinnen ein eigenes Haus bieten wollte, entwarf er würfelförmige, zweigeschossige Bungalows von vier Metern Breite, in die der Wohn-, der Schlaf- und der Küchenteil so hineinmodelliert waren, daß oben noch Platz für eine geräumige Terrasse war. Diese Wohncontainer wurden samt Sanitäreinrichtungen so vorgefertigt, daß sie als Einheiten angeliefert und mit dem Kran nebeneinandergesetzt werden konnten. Nach den Spielen mutierte das Sportlerdorf zum beliebtesten Studentenquartier der Stadt, denn jeder Mieter durfte seine Fassade nach eigenen Vorstellungen gestalten.
Aber auch jenseits der studentischen Bedürfnisse, als extrem verdichteter urbaner Raum, als Wohnsiedlung mit schmalen Gassen und kleinen begrünten Plätzen, als eine Art moderner Kral, verkörpert Wirsings Olympiadorf ein planerisches Ideal, ja eine städtebauliche Utopie, über deren Vorbildfunktion viel geschrieben worden ist, die aber kaum irgendwo Nachfolger gefunden hat.
Welchen architekturhistorischen Rang diese einzigartige Kleinstadt heute beanspruchen kann, wurde deutlich, als vor wenigen Jahren dringende Sanierungsmaßnahmen nötig waren. Die Stadt beschloß, das Ensemble nicht abzureißen, sondern mit einem fast identischen Nachbau des Studentenhaus-Prototypen an gleicher Stelle ein zweites Mal zu errichten. Werner Wirsing konnte also von sich behaupten, daß er ein Haus entworfen hat, das achthundertmal nachgebaut worden ist, ja daß er eine Stadt geplant hat, die vierzig Jahre später ein zweites Mal nach seinen Plänen errichtet, ja um 250 Häuser erweitert worden ist.
Werner Wirsing war übrigens der einzige Architekt, dem in den letzten Jahren die Ehrenmitgliedschaft der Akademie angeboten worden ist. Er war 98 Jahre alt, als er am 29. Juli starb.
Gottfried Knapp