»Wahre Kunst ist eigensinnig« – so meinte Ludwig van Beethoven einmal. »Eigensinnig« in der Tat war Heinz Winbeck, der Komponist, der so überraschend und vollkommen unerwartet am 26. März dieses Jahres in Regensburg sein Leben aufgegeben hat und gestorben ist. Dieser Tod hatte etwas von dem »Eigensinn«, der diesen Heinz Winbeck als Komponisten und Künstler, als Lehrer, aber auch als Menschen und Persönlichkeit auszeichnete. Man könnte sogar sagen, Heinz Winbeck war jemand, der in allem, was er in Angriff nahm, was er machte und wie er lebte, »Eigensinn« erkennen ließ und, wie man immer wieder den Eindruck gewann, nicht anders konnte, als von Eigensinn sich bestimmen und leiten ließ.
Daraus ließe sich der Schluß ziehen, dieser durchaus erkennbare »Eigensinn« sei von ihm vielleicht bewußt eingesetzt worden, um seine Musik und sich selbst interessant zu machen. Wir kennen solche »Spielchen« zuhauf! Doch bei Winbeck widersprechen das absolut Grenzwertige und so extrem Sperrige seiner Musik, aber auch die Anhänglichkeit an das Überkommene und aus den musikalischen Traditionen von ihm Entnommene einer solchen Annahme. In seiner Musik läßt sich keinerlei Kalkül ausmachen. Sie folgt, so läßt sich vielleicht einfach sagen, einem Ausdrucksbedürfnis aus einem radikal existenzialistischen Erleben heraus. Sie läßt einen bestürzenden Hang und eine Neigung zum Obsessiven erkennen. Das treibt Winbeck in seinen symphonischen Kompositionen oftmals so weit, daß dem Hörer das Gefühl überkommt, hier verselbständigt sich im musikalischen Geschehen eine Ausdrucksintensität, die eine derartige dynamische Dimension entwickelt, um sich selbst gleichsam zur Opferbeute zu machen und es so weit zu treiben, bis nichts mehr bleibt als nackte Leere, aus der alles Blut am Ende herausgesaugt ist.
Winbecks Musik, die seiner fünf großen Symphonien sowie auch die seiner Kammermusikwerke, kennt diesbezüglich – durchaus erinnernd an Dmitri Schostakowitsch und an Karl Amadeus Hartmann – keinerlei Rücksicht gegenüber dem Hörer. Der Komponist folgt seinem inneren Bedürfnis und Verlangen, einem Drang nach maximaler Verdichtung und einer sich daraus ergebenden Aufsprengung, bei der immer wieder offen bleibt, ob am Ende eine Befreiung oder der Tod wartet.
Etwas sehr Ambivalentes ist Winbecks Musik eigen, ja etwas Paradoxes; und dies teilt sie, wenngleich auf sehr eigene Weise, mit der Symphonik von Gustav Mahler, ein Komponist, der ihn neben Anton Bruckners Musik wohl am stärksten angezogen und geprägt hat und dem er sich am nächsten fühlte. Winbecks Musik sucht, indem sie sich ausdrucksversessen, laut und von dunklen Obsessionen getrieben extrem expressiv artikuliert, die Befreiung und führt mit geradezu unerbittlicher Konsequenz in den Tod. Vielfach erinnert das an die »Durchbruchszenen« in Mahlers Symphonien, bei denen man nicht weiß, erlebt man einen verunglückenden und verunglückten Durchbruch ins Freie, in ein erlösendes Szenarium; oder wird man Zeuge einer Schreckensbotschaft und eines Schocks, der den vor der Tür stehenden Tod ins Bild setzt.
Heinz Winbeck habe ich 1980 kennengelernt, zu einer Zeit, da er noch in Landshut lebte und arbeitete. Wir wurden Freunde und blieben Freunde bis in seine letzten Tage. Über all die Jahre pflegten wir einen engen Gedankenaustausch. Daher auch weiß ich, wie sehr ihn die fürchterlichen Elendsgeschichten in unserer europäischen Geschichte beschäftigt haben, insbesondere der Wahnsinn der Judenverfolgung- und -vernichtung durch die Nazis. Jahrelang hat ihn dieses Thema beschäftigt, ja gequält, da er sich in die Schicksals-Identität der Juden geradezu hineingelebt und sich gedanklichen und emotionalen Folterungen unterzogen hat. Dabei hat er natürlicherweise nach befreienden Auswegen gesucht, um am Ende doch immer in einem Untergangs-Szenarium zu landen. Das wirft auch die Frage auf, ob es vielleicht diese Selbstwahrnehmung und die damit verbundenen Vorstellungen von einer letztlich unbegreifbaren »Menschenwelt« waren, die ihn im Alter von Anfang Fünfzig dazu veranlaßten, vom Komponieren fast ganz abzulassen. Waren ihm diese unablässigen Auseinandersetzungen mit Tod und Verbrechen, mit der Aussichtslosigkeit, diese Gedanken- und Bilderwelt des Grauens von sich abschütteln zu können, zu belastend geworden?
Doch menschliche Endzeit-Szenarien ließen ihn nicht los; fünfzehn Jahre später komponierte er wie in einem Rausch eine 5. Symphonie mit dem Titel »Jetzt und in der Stunde des Todes«. In dieser Symphonie hat Winbeck das Thema des »Unvollendeten« bearbeitet, dies unter Bezugnahme auf Anton Bruckners 9. Symphonie, beziehungsweise auf deren Finale, zu dem Bruckner nur Skizzen hinterlassen hat. Sollte diese Auseinandersetzung mit einem nicht-existenten Finale, das gleichwohl im musikalischen Denken und Willen Bruckners existiert hat, der Anlauf zu einer »Wiederauferstehung« sein? Dachte der Komponist Heinz Winbeck vielleicht an ein Ereignis wie jenes, welches Gustav Mahler 1895 widerfahren war, als er nach dem vernichtenden Urteil von Hans von Bülow über die »Totenfeier«, den ersten Satz einer geplanten Symphonie, in eine in jeder Hinsicht künstlerisch-existenzielle Lebenskrise geriet, aus der ihn dann die Idee der »Auferstehung« in Verbindung mit dem Finale befreite? Der zündende Funke, der die schöpferische Idee und Kraft bei Mahler entfachte, entsprang Mahlers Teilnahme am Begräbnis von Hans von Bülow in Hamburgs St. Michaelis-Kirche, bei dem Gottlieb Klopstocks Hymnus »Auferstehn« als Choral gesungen wurde. Hören wir in Winbecks 5. Symphonie hinein, dann gewinnen wir allerdings weniger den Eindruck von einem neuen Leben, sondern eher das Empfinden, daß hier in einem langen Abschied und in der Art eines Übergangs sich ein »anderes, ein Todeserleben« generiert.
Unmittelbar nach dieser 5. Symphonie komponierte Heinz Winbeck für das Theater in Linz und für Dennis Russell Davies, der sich schon die ganzen Jahre zuvor für seine Musik eingesetzt hatte, eine Ballettmusik mit dem Titel »Lebensstürme«. Suchte der Komponist nach dem Todeserleben in »Jetzt und in der Stunde des Todes« doch noch mal das Leben? Diese Ballettmusik zeigt eine deutliche Orientierung an Franz Schubert, an die Welt des Tanzes und grotesker Bizarrerien. War es die Zerrissenheit und Gespaltenheit im Spätwerk Schuberts in den gegensätzlichen Weltsichten, wie sie aus dem lebenskämpferischen »JA« der Großen C-Dur-Symphonie einerseits sowie aus der abgrundtiefen Resignation der »Winterreise« andererseits sprechen, was den Komponisten Winbeck in Bann gezogen hat?
Wir wissen es nicht, doch wir können vermuten und dürfen die gesetzten Zeichen deuten und interpretieren. Glaubt man den letzten Jahren von Winbecks Leben, dann hat ihn die Anziehungskraft des Todes als sein Lebensthema nicht losgelassen und er hat seine Musik gedacht als einen großen Abgesang, hervorgegangen aus dem Gefühl, wie einem Komponisten wie Bruckner zumute ist,
der mit der Last einer »unfertigen« 9. Symphonie dem Tod entgegengeht und merkt, wie die letzten Einfälle und Visionen eine äußerste Zuspitzung erfahren und zugleich entgleiten, wie Einbrüche entstehen, wo vorher begehbares Land war, wie selbst die vertrauten und verehrten Vorbilder, deren großartige Gipfel man wenigstens von Ferne grüßen wollte, plötzlich zu dämonischen Autoritäten werden und man allein steht mit seinem Glauben auf schwankendem Boden. (Heinz Winbeck)
In der Tat offenbart das kompositorische Schaffen von Heinz Winbeck ein extrem ausgeprägtes Denken über den Tod und über die Schattenseiten des Lebens. Doch es gibt in Winbecks Leben und in seinen Ansprüchen an das Leben noch eine zweite Dimension, die für ihn und für sein Leben eine sehr große Rolle spielte, und in der er sich auch profilierte. Sie war nicht weniger wichtig und ließ ihn erscheinen wie in einem Bild aus Licht und Natur. Er war praktizierender Musiker, arbeitete mit und für Chöre, an Theatern als Arrangeur und vor allem auch als Dirigent. Er bewies da eine lebenspraktische Souveränität, die ihm eine sehr verheißungsvolle Zukunft zu garantieren schien. Doch die großen Lehrer-Vorbilder wie Harald Genzmer, Günter Bialas und Wilhelm Killmayer lenkten ihn in den Bereich des Lehrens und der Bildung. Zunächst als Dozent an der Münchner Musikhochschule tätig, wurde er 1988 auf den Lehrstuhl für Komposition an der Würzburger Musikhochschule berufen. Die damit verbundene Arbeit und Verpflichtung, sowohl der musikalischen Tradition als auch den jungen suchenden Komponisten gegenüber, nahm er auf eine seltene Weise ernst, ja machte sie sich geradezu zur Lebensaufgabe. Bedenkt man die Vielzahl seiner Schüler und glaubt man deren Aussagen, dann hat dieser Lehrer Winbeck den Jungen etwas vermittelt, was in der schöpferischen Auseinandersetzung mit Mensch und Welt, mit Ich und Gesellschaft von grundlegender Bedeutung ist: nämlich Achtung und Würdigung all dessen, was Welt und Natur als Schöpfung darstellen, sowie Authentizität und Identität. Die Wurzeln zu Persönlichkeits-Entwicklungen und -Ausprägungen sind verschieden. Ihre Pflege und Nährung, ihre Förderung verlangen hohe Sensibilität. Dies letztere war ihm als Lehrer in sehr besonderer Weise gegeben, da er frei von jeglicher Ideologie war und jedem seiner Schüler auch die Freiheiten und Bedürfnisse ließ, die diese brauchten, um aus deren reflektierter Nutzung sich schöpferisch entwickeln zu können.
So zielgerichtet und fokussiert Heinz Winbeck als Komponist in der Ausrichtung seines kompositorischen Denkens erscheint, so engagiert er sich für seine Schüler einsetzte, so in sich verzweigt und vielfältig war er in seinen Interessen. Nicht nur, daß er musikalisch und künstlerisch höchste Bildung und Kompetenz verkörperte, er war gebildet in einem sehr weitreichenden Sinn; denn er war ebenso Praktiker und Theoretiker wie er in seinem Denken sowohl geisteswissenschaftlich wie auch naturwissenschaftlich ausgerichtet war. Idee und Realität des Kosmos haben ihn äußerst intensiv beschäftigt und zu einem bedeutenden Sammler von Meteoriten gemacht, der den Austausch mit Fachleuten gesucht hat.
Überhaupt war Heinz Winbeck ein Sammler, doch einer, dem es dabei nicht um materielle Bereicherung ging, sondern der daraus geistigen Gewinn zu ziehen versuchte. Er sammelte Filme, Hörbücher, vor allem aber Musiksendungen und wissenschaftliche Vorträge über Entwicklungen und zum Zustand unserer Welt, vor allem zu aktuellen Problemlagen. In nächtlichen Sitzungen suchte er sich deren Inhalte dann zu eigen zu machen. Manchmal gewann ich den Eindruck, als lebte er in einer imaginierten Akademie, wo er seine Dialoge führte und mit Größen wie Beethoven, Schubert, Bruckner und Mahler, aber auch Protagonisten aus anderen Bereichen verkehrte.
Winbeck ging es stets um das Ganze, um die Beziehungskomplexität dessen, was uns als Welt und Sein umfangen hält, was unsere Neugierde und den Willen zur Erkenntnis anfacht, uns Fragen über Fragen stellen läßt, auf die wir Antworten suchen, ohne daß wir darin jemals zu einem Ende kommen könnten.
Heinz Winbeck lebte durchaus nicht im Abstrakten oder im aus-schließlich Gedanklichen, sondern er suchte eine Lebensform der konkreten Nähe zu den »Dingen« des Lebens. Hunde, Katzen, Ziegen, Schafe, Esel gehörten dem mit seiner Ehefrau Gerhilde geschaffenen Lebensraum an, und der machte Arbeit und verlangte Empathie. Seit 1990 lebten Gerhilde und Heinz Winbeck in einem von der Katholischen Kirche übernommenen Pfarrhof, den sie restaurierten und wieder bewohnbar machten. Allein diese klösterliche, dabei in ihrem Inneren bescheiden und doch mit vielerlei Wissensgütern ausgestattete Realität sagte immer sehr viel aus über den gestalterischen Willen, der hier waltete; und der den beiden, Gerhilde und ihm eigen war und erkennbar machte, daß in der Lebendigkeit des Lebens aus Gedanken und sinnenhafter Empfindung der Sinn des Lebens sich vollgültig offenbart. In diesem Pfarrhof, der deutlich die barocke Prägung erkennen, aber auch vermuten läßt, daß er schon seit urdenklichen Zeiten den Menschen ein heiliger Ort war, entwickelte Heinz Winbeck einen Lebensstil, in dem sich die Vorstellung von einem »eigensinnigen« Leben in der Verknüpfung von Eremitage und selbstgestalteter Universalität realisieren ließ. Dieser Pfarrhof war seine Welt, die ihm Schutz gab, in die er sich aber zugleich auch hereinholte, was draußen vor sich ging, wenn er wollte. Ich habe ihn immer bewundert ob dieser Lebensform; denn in ihr konkretisiert sich die Idee von einem schöpferischen Menschen, der einerseits sich als Fremder wähnt in dieser Welt, doch andererseits durch die menschliche Eigensinnigkeit seiner Gestaltung diese Welt sich zu eigen und bewohnbar machen will.
Dieter Rexroth