Abteilung Literatur: Ilse Aichinger - Ordentliches Mitglied seit 1962
geb. 1. November 1921 in Wien – gest. 11. November 2016 ebenda
»Schreiben ist sterben lernen« (I. A.)
Sie war eine Überlebende und litt lebenslang darunter überlebt zu haben. In ihrer Rede auf Kafka (mit dem so bezeichnenden Titel Die Zumutung des Atmens) fragte sie: »Durfte ich nicht als ein noch so schwacher Rauch zum Himmel steigen, war sogar der Weg, auf dem ich zu Asche werden sollte, reglementiert?« Als 1921 geborene Tochter eines nichtjüdischen Vaters konnte sie zwar ihre geschiedene jüdische Mutter schützen, doch die geliebte Großmutter, bei der sie und ihre Zwillingsschwester in Wien aufwuchsen, und viele ihrer nächsten Verwandten wurden deportiert. In ihrem Debütroman Die größere Hoffnung besteht die einzige Hoffnung des Mädchens Ellen darin, zu den Todgeweihten zählen zu dürfen: sie heftet sich selbst den Judenstern an und wählt damit den Tod. Die größere Hoffnung, 1948 erschienen, war für meine Generation das Buch der Bücher, das uns von Grund auf erschütterte und zugleich die schmale Hoffnung nährte, die Poesie müsse vor dem Massenmord nicht kapitulieren, war doch Die größere Hoffnung ein hochpoetisches Werk, in dem sich Albtraumhaftes und träumerisch Visionäres unauflöslich verbanden. Einmal erblicken da jüdische Kinder, die sich ohne Visum auf einem Dampfer nach New York befinden, einen Haifisch im Meer: »Er hatte sich das Recht ausgebeten, sie vor den Menschen beschützen zu dürfen … Der Haifisch tröstete sie, wie nur ein Haifisch trösten kann.« Die herzzerreißende Ironie Ilse Aichingers war in der noch ganz auf Kahlschlag getrimmten Nachkriegsliteratur ein unerhört neuer Ton.
Nur folgerichtig, daß ihr 1952 die Gruppe 47 (die sie als Pfadfindertreffen empfand) für ihre wunderbare, spiegelverkehrt vom Ende zum Anfang hin erzählte Spiegelgeschichte (enthalten in ihrem Erzählband Der Gefesselte) ihren renommierten Preis verlieh. Ilse Aichinger hob danach nicht ab, sondern zog sich immer mehr zurück und publizierte in großen Abständen nur noch wenige schmale Bände mit Gedichten, Erzählungen, Skizzen und Notaten, die freilich viele gefeierte literarische Großproduktionen aufwiegen. Das gilt vor allem auch für ihre Gedichte (1978 unter dem Titel Verschenkter Rat erschienen) die, ähnlich Paul Celans Gedichten, oft am Rande des Verstummens angesiedelt sind. Ilse Aichingers Werk vermag etwas, was sonst nur großer Musik gelingt, zugleich untröstlich und tröstlich zu sein. Sich selbst aber verbot sie Trost. »Ich kann getröstet nicht leben«, bekannte sie in ihrem Buch Kleist, Moos, Fasane (in dem sich neben autobiographischen Skizzen aus ihrer Zeit unterm Hakenkreuz und Aufzeichnungen aus den Jahren1950-1985 auch Texte zu ›ihren‹ Autoren finden, zu Adalbert Stifter, Joseph Conrad, Franz Kafka oder Samuel Beckett).
Schon am Ende ihres Romans Die größere Hoffnung hieß es: »Wo es nicht mehr wehtut, dort wird es gefährlich«. Obwohl es ihr bis zuletzt wehtat und sie zu einem weiblichen Hiob wurde – nach Günter Eich, ihrem Mann, starb Clemens, ihr Sohn und selbst ein Dichter, danach starb der junge Richard Reichensperger, ihr später Freund, der ihr Gesamtwerk ediert hat – und obwohl sie auf die Frage des Proustschen Fragebogens »Was ist für Sie das größte Unglück?« die Antwort »die Genesis« gab, war sie doch auch auf verzweifelte Weise froh, auf der Welt zu sein und diese mit ihrer Untröstlichkeit, aber auch mit ihrem Lachen herauszufordern. Wie herzlich konnte die leidenschaftliche Kinogeherin, die manchmal vier Filme am Tag sah, etwa über Filme von Laurel & Hardy lachen (denen sie in Film und Verhängnis, einem Band ihrer Filmkritiken, »Souveränität der Lächerlichkeit« attestierte), aber ebenso über die Dummheit der Neunmalklugen oder der auf ›gesundes Volksempfinden‹ Versessenen, denen sie, mit dem von ihr bewunderten Verzweiflungsexperten Emil Cioran entgegenhielt: »Positiv denken ist das Gegenteil von Denken«.
Einmal gestand sie: »Verschwinden war mein erster Wunsch«. Obwohl das braune Wien und das goldige Wien alles taten, ihr diesen Wunsch zu erfüllen – vor ein paar Jahren erklärte ihr noch eine Wiener Augenärztin: »Auf beiden Augen grauer Star; sterben’s lieber!« –, wird sie, die 95 Jahre alt wurde, auch jetzt nicht verschwinden. Bis zuletzt behielt sie die scheue Schönheit ihres Mädchengesichts. Was für ein Glück, daß es das Bilderbuch Ilse Aichinger des großen Fotografen Stefan Moses gibt.
Peter Hamm