Die Bayerische Akademie trauert um den Verlust eines der großen Geisteswissenschaftler unserer Zeit, der jahrelang auch das intellektuelle Leben unserer Akademie maßgeblich mitbestimmt hat, deren ordentliches Mitglied er seit 1980 gewesen ist: Harald Weinrich, gestorben am 26. Februar 2022. Der geistesverwandte Friedhelm Kemp hat ihn seinerzeit als Mitglied vorgeschlagen. 1927 in Wismar geboren, wäre er am 24. September dieses Jahres 95 Jahre alt geworden. Seine frühe Kindheit verbrachte er in Wismar und im Ruhrgebiet: in dem heute wegen seiner malerischen Fachwerkhäuser denkmalgeschützten Dorf Westerholt, das inzwischen zur Stadt Herten gehört. Meine vier Jahrzehnte umfassende Freundschaft mit Harald Weinrich mag nicht zuletzt – atmosphärisch – aus landschaftlicher Verbundenheit resultieren. Stammte mein Vater doch aus Herten im Kreis Recklinghausen, und dort in Recklinghausen bin ich selbst aufgewachsen. Kennengelernt habe ich Weinrich allerdings erst viel später in München, wo ich bald seine Sympathie für meine Wenigkeit und meine Publikationen gewann. Er war es schließlich auch, der mich als Mitglied der Bayerischen Akademie der Schönen Künste vorschlug.
Daß Harald Weinrich zwei Tage nach dem Überfall Rußlands auf die Ukraine gestorben ist, ist von schmerzlicher Symbolhaftigkeit. Er selbst hat noch das Ende des Zweiten Weltkrieges als Soldat erleben müssen. Als er im Juli 1947, 19 Jahre alt, nach zweijähriger Kriegsgefangenschaft in Frankreich nach Münster zurückkehrte, schrieb er – als letzten Eintrag in seinem Tagebuch: „Wieder daheim! Ich danke dem Herrgott für seine Fügung und Führung und will mich in meinem zukünftigen Leben dieses Glückes würdig erweisen.“ Das hat er wahrhaft getan! Sein europäisch, durch die romanische Literatur geprägtes Menschenbild sollte nun Friedensbrücken schlagen, Friedenslücken schließen, die der Krieg verhängnisvoll gerissen hatte. Sein Tod markiert das Ende einer Friedenswelt, die seine ganze Lebensatmosphäre und seinen Gelehrtenhorizont bildete. Nach Kriegsdienst und Kriegsgefangenschaft studierte Harald Weinrich in Münster, Freiburg, Toulouse und Madrid. 1954 promovierte er bei dem Rhetorik-Papst Heinrich Lausberg in Münster, wo er sich vier Jahre später habilitierte. Schon mit 32 Jahren wurde er als Professor nach Kiel berufen. Es folgten Lehrstühle in Köln, Bielefeld – er war einer der Gründer der Reformuniversität und jahrelang Direktor des Zentrums für interdisziplinäre Forschung – und schließlich München, wo er das neugegründete Institut für Deutsch als Fremdsprache leitete. Nach der Emeritierung in München begann seine glanzvolle Alterskarriere. Er wurde ans Collège de France berufen – für das als solches in Frankreich unbekannte Fach der „Romanistik“ – sowie auf den Galilei-Lehrstuhl an der Scuola Normale in Pisa. Ehrendoktorate, Gastprofessuren, Fellowships und Akademiemitgliedschaften im In- und Ausland krönten sein Lebenswerk und seine beispiellose Karriere. Seinen Hauptwohnsitz verlegte er nach seiner Emeritierung nach Münster, in seine westfälische Heimat. Dort gelangte unsere Freundschaft auf eine neue Stufe. Da ich eine enge Beziehung zum Theater der Stadt Münster hatte, hielt ich dort Jahr für Jahr Vorträge, und so gut wie immer saß Harald Weinrich im Publikum und hielt anschließend ein kleines Korreferat, mit der ihm eigenen Mischung aus Gelehrtheit, Witz, Charme und sprachlicher Eleganz.
Weinrich verkörperte noch die Einheit seit langem auseinandergefallener oder wie man heute gern schönfärbend sagt: ausdifferenzierter Fachgebiete. Er war Linguist wie Literaturwissenschaftler, betrachtete die Sprache und ihre Strukturen mit literarischen Augen und die Literatur aus sprachwissenschaftlicher Perspektive. Davon zeugen zumal das epochemachende, wiederholt neu aufgelegte Buch Tempus. Besprochene und erzählte Welt (1964), die Linguistik der Lüge (1966) und seine beiden Textgrammatiken der französischen (1982) und deutschen Sprache (1993). Zudem bildete die Romania für ihn immer eine Einheit, war er doch in der französischen Sprache und Literatur ebenso zu Hause wie in der italienischen und spanischen – nicht zuletzt aber auch in der deutschen. Und all seine philologischen Studien wurden stets eingebettet in einen breiten kulturtheoretischen und mentalitätsgeschichtlichen Zusammenhang. Er war ein uomo universale von heute fast verschwundener Prägung. Davon zeugen bereits seine beiden Qualifikationsschriften: die Dissertation Das Ingenium Don Quijotes (1956) und die Habilitationsschrift Phonologische Studien zur romanischen Sprachgeschichte (1958), in welchen er erfolgreich den Versuch unternommen hat, die strukturalistische Sprachwissenschaft in den Spuren von Ferdinand de Saussure, der Sprachen als synchrone Systeme begreift, mit der Sprachgeschichte zu versöhnen.
In den letzten Jahrzehnten, gewissermaßen nach Abschluß seines linguistischen und systematischen Lebenswerks hat Weinrich sich immer stärker kulturwissenschaftlichen Fragestellungen zugewandt und in Verbindung damit die Gattung der wissenschaftlichen Monographie gegen die hohe Kunst des Essays vertauscht, so in seinen Büchern Lethe. Kunst und Kritik des Vergessens (1997), Kleine Literaturgeschichte der Heiterkeit (2001), Knappe Zeit. Kunst und Ökonomie des befristeten Lebens (2004) oder Über das Haben (2012). Seine Kunst des Schreibens – daß er nicht nur ein Gelehrter, sondern ein Meister der Prosa war – wurde durch die beiden wichtigsten einschlägigen Preise, den Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa (1977) und den Karl-Vossler-Preis (1992) bestätigt. Wissenschaft und Stil – in sprachlicher Hinsicht wie in der Lebenshaltung – waren für Harald Weinrich eins, verbunden durch die Gabe des Humors, die ihn so prägte wie kaum einen großen Gelehrten unserer Zeit. „Den Stil verbessern – das heißt den Gedanken verbessern, und gar nichts weiter!“ Das berühmte Wort Nietzsches bezeichnet Weinrichs Lebens- und Schreibenselixier. Mehr als Wissenschaftler war er im schönsten und umfassendsten Sinne ein homme de lettres.
Dieter Borchmeyer