Er war in allen Künsten begabt, in allen ein Connaisseur, doch dem Erzählen gehörte der größte Teil seiner Kraft. Herbert Rosendorfer hat ein so umfängliches Werk hinterlassen, daß man sich fragt, wann der studierte Rechtswissenschaftler Zeit hatte, seinen bürgerlichen Beruf auszuüben – was er ja seit 1967 als Amtsrichter in München tat, von 1993 an als Oberlandesrichter in Naumburg. Seit seiner Pensionierung, 1997, lebte Rosendorfer in Eppan, Südtirol, in der Landschaft seiner Kindheit. 1934 war er dort, in Bozen, geboren worden.
Daß er ein Bestsellerautor war, läßt sich mit den über zwei Millionen verkauften Exemplaren seiner Briefe in die Chinesische Vergangenheit belegen. Doch nichts kennzeichnet ihn weniger als die kommerzielle Charakterisierung. Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung haben dieses Buch zwar zu seinem erfolgreichsten gemacht, literarisch begonnen hat der Neunzehnjährige jedoch im Spiel mit dem Absurden und Phantasmagorischen in seiner Erzählung Die Glasglocke, die erst 1966 erschien. Von Friedrich Torberg als »Entdeckung eines skurrilen Erzählertalents« gefeiert, blieb er seiner barocken Phantasie treu und bändigte sie durch die Mittel des Humors. Barock sind auch die Erzähltechniken in den großen Romanen aus Geschichten Der Ruinenbaumeister (1969) oder Ball bei Thod (1980), wo scheinbar unabhängige Erzählstränge sich am Ende als Fäden eines raffiniert angelegten Musters erweisen.
Rosendorfers Blick auf die Doppelbödigkeit der Welt durchzieht sein gesamtes Werk, und noch in der leichtesten Satire tun sich, manchmal in Nebensätzen, die Abgründe der Normalität auf. Was er als Amtsrichter nach Recht und Gesetz regeln mußte, geriet ihm als Schriftsteller zu überbordenden, burlesken, beklemmenden, aberwitzigen Geschichten, hinter denen ein melancholischer Blick auf die Welt steht. Wer ihn kannte, mußte sich wundern, daß in dem überaus gebildeten, bescheidenen und zurückhaltenden Mann ein so wilder Phantastiker hauste. Auch die Libretti und Kompositionen, die Zeichnungen und Aquarelle lassen nicht vermuten, daß sie von einem Erfinder apokalyptischer Alpträume stammen. In seinem frühen Roman Großes Solo für Anton (1976) verschwindet die Menschheit auf rätselhafte Weise, dafür schenkt Rosendorfer uns an anderer Stelle einen Komponisten namens Otto Jägermeier, der, obwohl schiere Fiktion, in seriöse Musiklexika Eingang fand. Rosendorfer läßt ihn gleich mehrfach auftreten und spielt schließlich sogar mit den Folgen: In seinem späten Roman Der Meister (2011) verwandelt sich die als Studentenscherz gemeinte Erfindung eines Komponisten in furchterregende Wirklichkeit. Daß ein Autor wie Rosendorfer, darin E.A. Poe ähnlich, keine Mühe hat, aus dem dämonischen ins Kriminalfach zu wechseln, wundert nicht. Er hat zahlreiche Drehbücher für Fernsehkrimis geschrieben, darunter vier für die Reihe Tatort.
Seine Prosa haben manche Kritiker dem »phantastischen Realismus« zugeordnet, andere feierten sein »beschwingtes Erzähltalent«. Mir scheint, daß er sich nicht anders gegen die Welt, wie sie ist, wehren konnte als durch ihre groteske Verwandlung. In seinen letzten Jahren, seit 1998, hat er versucht, sich der Menschheitsgeschichte, in regionalem Ausschnitt, ohne Erfindungen und Verwerfungen zu nähern. Sein sechsbändiges Werk Deutsche Geschichte – Ein Versuch reicht von den Anfängen bis zu Friedrich dem Großen, Maria Theresia und dem Ende des alten Reichs (2010). Doch auch in der Rolle des Gelehrten, des Historikers, der aus reichem Bildungsvorrat schöpfen konnte, spricht der Empörte, der Mitleidende, der Trauernde. Diese Geschichtsschreibung, in souveräner Subjektivität verfaßt, zeigt, daß Rosendorfer sich vor der Wirklichkeit, vor allem der seit 1933, nur mit abgründigem Witz, Biß, Scharfzüngigkeit und kafkaesker Phantasie behaupten konnte. Er hat nicht daran geglaubt, daß Literatur die Welt verändern könne; aber durch bewundernswerte Produktivität sich selbst davor bewahrt, an dieser Welt zu verzweifeln. Dem Juristen mochte man anfangs den Schriftsteller nicht zugestehen. »Ein Richter kann zwar unangefochten für die NPD kandidieren, aber Schreiben gilt als unfein«, sagte er in einem Gespräch. Am Ende finden sich in seinem Werk die Rechtsgelehrten als Karikaturen wieder.
Die Gesellschaft, der er mißtraute, hat ihn gleichwohl mit zahlreichen Preisen geehrt. Darunter sind der Jean-Paul-Preis, der Literaturpreis der Stadt München, der Deutsche Phantastik-Preis und, für sein Lebenswerk, die Corine 2010. Er trug das Bundesverdienstkreuz Erster Klasse und war, außer in unserer Akademie, auch Mitglied in der Mainzer Akademie der Wissenschaften und der Literatur. Am 20. September 2012 ist er in seiner Heimatstadt Bozen gestorben.
Gert Heidenreich