19.8.1927 – 13.10.2019
Als die Mitglieder der Abteilung für Bildende Kunst im Januar 2018 darüber berieten, ob Emil Cimiotti in die Akademie gewählt werden solle, gab es keinen Widerspruch. Im Gegenteil wurde Erstaunen darüber laut, daß man diesen bedeutenden deutschen Bildhauer bisher unberücksichtigt gelassen hatte. Schließlich wurde Cimiotti zum Ehrenmitglied der Akademie gewählt und im November desselben Jahres mit einer Einzelausstellung geehrt.
Dem 1927 in Göttingen geborenen, nicht aus einem musischen Haushalt stammenden Cimiotti war es nicht in die Wiege gelegt, Künstler und später Kunstprofessor zu werden. Das sei »für seine Eltern ganz unvorstellbar gewesen«, obwohl er schon früh ein begabter Zeichner war. Nach seiner Entlassung aus britischer Kriegsgefangenschaft absolvierte er in Göttingen zunächst eine Steinmetzlehre (1946–1949). Als einer der ersten Kunststudenten erhielt er ein Stipendium der Studienstiftung des deutschen Volkes, was ihm ermöglichte, an der Stuttgarter Kunstakademie und später an der Berliner Hochschule der Künste Bildhauerei zu studieren. Für ein Semester ging Cimiotti zu dem damals bereits legendären kubistischen Bildhauer Ossip Zadkine und beendete 1954 sein akademisches Studium in Stuttgart, ohne von seinen dortigen Lehrern – mit Ausnahme von Willi Baumeister – entscheidend geprägt worden zu sein.
Seit 1955 entstanden seine, zunächst kleinformatigen, aufgebrochenen, schrundigen, ins Unbegrenzte strebenden Bronzen. Die direkt in Wachs modellierten Arbeiten, die über das Ausschmelzverfahren zu Unikaten führen, die keine Auflagengüsse zulassen, zeigen Formprozesse, die der Plastik des Informel neue Ausdrucksmöglichkeiten eröffneten. Dennoch wäre es falsch, ihn primär als »Bildhauer des Informel« zu bezeichnen. Spätere Werkphasen, darunter seine Zeichnungen und die Papierreliefs erweiterten und vertieften sein Ausdrucksspektrum. Unbekümmert, doch zugleich reflektiert – seine umfangreichen Notate über den eigenen Werdegang und die zeitgenössische Kunst zeugen davon – überwand Cimiotti die lange verhärteten Fronten von abstrakter und gegenständlicher Kunst.
Bis ins hohe Alter arbeitete er täglich im Atelier. Als Konstanten und Konstituenten seines Werks bleiben sichtbar: der Wille, differenzierte Räume zu erschließen, sie im Innen und Außen erlebbar werden zu lassen und die Formen ins Leichte, ins Nicht-Tektonische zu heben.
Nach anfänglicher Ablehnung gelang es ihm auch durch Kunst im öffentlichen Raum ein breiteres Publikum für seine Kunst zu sensibilisieren und zu öffnen. Sein bronzener »Gruß an Willi Baumeister« steht vor dem Rathaus in Marl, der »Cimiotti-Brunnen« sprudelt vor dem Staatstheater Braunschweig und eine »Große Kreuzblume« wächst im Berliner Westend aus einem steinernen Sockel heraus. Seine wohl bekannteste Plastik ist der »Blätterbrunnen« in Hannover, eine Konstruktion aus organisch wuchernden Blattformen.
Die Anerkennung und Bewunderung, die seinen Plastiken zuteil wurden, spiegelt sich auch in zahlreichen Ausstellungen und Ausstellungsbeteiligungen in Deutschland, Frankreich, den USA und Kanada wider. Dreimal war er auf der Kasseler documenta (1959, 1964 und 1968) vertreten und zweimal auf der Biennale in Venedig (1958 und 1960). 1963 gehörte Cimiotti zu den Mitbegründern der Hochschule für Bildende Künste in Braunschweig, wurde dort zum Professor für Bildhauerei berufen und lehrte bis zu seiner Emeritierung im Jahr 1992.
Als Zeichner verfügte Cimiotti über eine eigene künstlerische Handschrift. Seine Zeichnungen greifen Themen der plastischen Arbeiten oft mit zeitlicher Verzögerung und Verschiebung auf und führen sie zu anderen, diesem anderen Medium entsprechenden Lösungen. »Für Themen, die ich plastisch bearbeitet habe, finde ich oft auch zeichnerische Lösungen«, schrieb Cimiotti. Dabei spielt das eine Medium dem anderen Anregungen und gestalterische Lösungen zu. Seine plastischen Arbeiten erhielten häufig farbige Fassungen in Weiß, Schwarz und in Erdfarben.
Einen eigenständigen originellen Werkteil bilden die farbig bemalten, gefalteten, gestauchten und gerollten Papierreliefs. Als Cimiotti 2015 aus Altersgründen mit der bildhauerischen Arbeit aufhören mußte, standen sie als zu wählendes Medium gleichsam schon bereit und überzeugten nun durch ihre plastische und sinnliche Präsenz. Auch hier dominierte Cimiottis Sachlichkeit den »Mitteln« gegenüber. Diesen Grundsatz teilte er mit Willi Baumeister. Seine immer wieder zu neuen Ufern aufbrechende, lebendige Arbeitsweise aus den Gestaltungsmitteln heraus, verband Cimiotti mit der klassischen Moderne ebenso wie mit der postexpressionistischen Plastik am Ende des 20. Jahrhunderts. Freunden, Schülern und Weggefährten wird Emil Cimiotti in Erinnerung bleiben als Schöpfer eindrucksvoller, naturhafter, zuweilen filigraner plastischer Landschaften, dem die »Purifizierung« fremd war. Als ein leidenschaftlicher Bildhauer, der von sich selbst sagte: »Ich könnte mir mein Leben, ohne zu produzieren, und zwar andauernd zu produzieren […], überhaupt nicht vorstellen, das ist meine elementare Lebensäußerung.«
Andreas Kühne